RafaeFs
Universalität.
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Wir haben bis jetzt der äussern auf Rafael einwirken-
den Verhältnisse gedacht, wobei jedoch keineswegs der
Vorstellung Raum zu geben ist, als sei er ein blos rellec-
tirender Künstler, oder ein Eklektiker gewesen. Vielmehr
haben wir nie zu vergessen, dass Rafael mit seinem schöpfe-
rischen Talent in einer Zeit und in einem Lande geboren
wurde, wo die Lebensverhältnisse sich noch ungleich natür-
licher nahe standen als jetzt, wo er sozusagen noch mit
aller Frische aus der ersten Quelle des Lebens schöpfen
konnte, noch nicht nöthig hatte sich aus einem ganz con-
ventionellen in einen natürlichen Zustand hineinzudenken.
Sodann dass grade seine Zeit sich wieder in Bezug auf die
bildende Kunst mehr zur Erkenntniss tiefer Wahrheiten er-
hob, wo die Talente zwar von äussern Einflüssen angeregt,
aber in eigenthümlicher, unbewusster Kraft gleich der Natur
organisch wirkten. Das Erwerben war daher bei Rafael
zugleich ein Verschmelzen zum harmonischen Ganzen.
Der reiche Genius RafaePs erfasste mit gleicher Lust,
mit gleichem Ernste Gegenstände der verschiedensten Art;
denn er verehrte nicht nur die höchste Schönheit in Gott,
sondern freute sich auch ihres Abglanzes in den WVesen der irdi-
schen Schöpfung. Indem er auf diese Weise vom Geiste aus-
gehend in jedem Object sowohl das Allgemeine, als das ei-
genthiunlich Schöne erkannte, sehen wir ihn nie geahndete Ge-
bilde, worin sich der ganze Adel seiner schönen Seele spie-
gelt, in grossen und naturgetreuen Ziigen hervorrufen. S0-
wohl bei seinen kirchlichen, als seinen übrigen Darstellun-
gen hatten wir Gelegenheit des Meisters tiefe Auffassung
und lebendige Behandlung zu bewundern, zu verehren, wie
er in seinen Schöpfungen , bei aller Lebenslust, stets
keusch geblieben, und wie er das Hässliche selbst, wo es
als Gegensatz, wo es im dramatischen Zusammenhange vor-
kommt, durch den im Ganzen durchwehenden Geist zu
adeln, mit einer höhern Welt in Verbindung zu bringen,
ihr unterzuordnen wusste. Überall schwebt des göttlichen
Rafaefs Genius über dem Werke und erhebt uns mehr als
irgend ein anderer Künstler zu einer vom Geist durchleuch-