Mickel Angela's
Einfluss.
345
erreichter Grossartigkeit konnten ihre Wirkung auf des Ur-
binaten empfänglieheil Sinn nicht verfehlen. Von geringerer
Bedeutung ist es indessen, wenn er in einzelnen Fällen die
äusseren Formen des Michel Angelo vorübergehend annahm
und selbst den Typus des Gott Vaters von ihm beibehielt,
als dass er in dessen Werken eine Kunst erkannte, welche
auf dem tiefsten Grund der Wesen und der Formen beruht,
wodurch eine über alle äusseren Erscheinungen unserer jetzi-
gen Natur stehende Vollkommenheit erreicht wird. Dieser
Anffassnngsweise folgte Rafael von nun an, obgleich er dazu
auf einem ganz andern Wege als Michel Angelo gelangte.
Dieser war bei den griindlichsten anatomischen Studien von
einer Vorstellung vom vollkommenen Menschen, der noch
im Besitz seiner ganzen göttlichen Natur und Herrlichkeit
ist, ausgegangen und hatte auf diesem Wege, namentlich
an der Decke der Sixtinischen Capelle, nach seinem hohen
Sinn eine ideale, aber nur aus seiner individuellen Idee
hervorgegangene Menschheit dargestellt. Er behandelte
das Verscbiedenartigsle gleichmässig; das Zarte und Sanfte
eben so wie das Gewaltige und Erhabene. Rafael hinge-
gen, begabt mit einem reicheren, innern Seelenleben, _ge-
langte durch seine Studien von einer scharfen Beobach-
tuug des Individuellen und Charakteristischen in der äus-
sern Erscheinung zu einem grossen Reichthnm der For-
men und der Beziehungen, oder zur Darstellung des Cha-
rakteristischen und Dramatischen. Als er nun des Michel
Angelo Anschauungsweise, welche dieser mit Recht seine
Kunst nennen durfte, kennen lernte, erkannte er sogleich
eine ihm bis dahin verborgen gebliebene tiefe, im Wesen
und in der Natur des Menschen gegründete Basis, von der
er nun selbst auszugehen strebte. Er verliess daher seit-
dem das Portraitmässige, wie wir es noch im Wandbild der
Theologie erblicken, und suchte mehr die Grundtypen der
Charaktere und Formen, ohne jedoch seine objective Be-
handlungswveise zu verlassen, wodurch er gleich dem ge-
heimen Wirken der Natur, die höchste Mannigfaltigkeit zu
erzeugen vermochte.
Weniger zeigte sich bei Rafael der Einfluss. der anti-