Die kleine
heil.
Familie.
297
sehen als Schön den ersten Platz einnehmen darf. Doch
äusserst selten sind solche Beispiele unter den Menschen,
denn die Natur stellt nicht ihr Kostbarstes zur Schau. Aber
in ilnserm Zeitalter hat die schöpferische und freigebige
Mutter gleichsam im Wetteifer mit der.Gottheit, um etwas
Vollkommenes, Bewundrungswfirdiges und den unsterblichen
Göttern Allerähnlichstes der Welt zu zeigen, die Johanna
Aragonia Colonna hervorgebracht; und von der Wiege an
bis hieher (wo sie in voller Blüthe steht) durch alle Ent-
wicklungsstufen der Schönheit und Liebenswürdigkeit ge-
führt, so dass sie nun die erste Stelle unter den Schön-
sten einnimmt. Ihren Geist hat sie überdem mit ausser-
ordentlichen Gaben und Tugenden geschmückt und ihrem
Körper von so seltner, so schmuckvoller, ja vielmehr gött-
licher Bildung die sittliche Würde zugesellt, so dass man
an ihr nichts, als nur die Unsterblichkeit vermissen kann.
So heiter ist Stirn und Mund, solch Feuer und goldschim-
mernder Strahlenschein in den Augen, endlich am ganzen
Leibe solche Wohlgestalt, Anmuth und Holdseligkeit, dass
selbst die Gefiihllosen angezogen, zur Liebe bewegt und
zur Betrachtung der absoluten Schönheit gelockt werden.
Im Geleit von grosser Heiligkeit und hoher Sitte übertrifft
sie ihr Geschlecht an Beredtsamkeit, so dass sie, um Allen
Tugend und Würde zu erwerben, als Spiegel und glanz-
vollstes Gestirn aufgegangen zu sein scheint."
Nach Felibien sandte Rafael damals auch aus Erkennt-
lichkeit für die ihm am französischen Hof geleisteten Dien-
ste jene kleine heilige Familie mit der Wiege an Adrian
Gouftier, Cardinal de Boissi, später (1519) Legat Leo X
bei Franz I. Dieses köstliche von Rafaefs Hand ausge-
führte Bildchen befindet sich nun nebst dem dazu gehöri-
gen grau in Grau gemalten Deckel, mit den andern eben-
genannten Gemälden im Pariser Museum. Als diese Werke
RafaePs zu Paris angekommen und vor die Augen des Kö-
nigs gestellt worden, fand dieser eben sosehr von ihrer
hohen Vortrefflichlceit, als von des Künstlers Grossmuth sich
überrascht, nach einer Weile jedoch sprach er die aner-
kennenden Worte: „Die grossen Männer in der Kunst,