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Ideale
das
Über
in
Kunst.
der
sten Blüthe derselben, wenn auch mit Unterbrechungen,
doch so lange unaufhaltsam nach höherer Verklärung fort-
schritt, {als Wahrheit ihre Grundlage blieb. So wie sich
aber der Geist der Kunst von der unbefangenen Einfalt zum
Born des Truges wandte, Üppigkeit, statt der keuschen
göttlichen Freude wucherte, da trübten sich die Empfindun-
gen und_ das Bestreben, eine wahrhaft verklärte (ideale) Welt
darzustellen, versank von der Wahrheit abgewendet, in die
Leere des Scheins und war mm im Stande Verzerrungen
hervorzubriilgen. Ist .nun auch eine solche geistige Rich-
tung bald nach RafaeFs Zeit wahrnehmbar, verwandelte sich
auch in der bildenden Kunst das Ideal in eine Larve, wel-
che bald in Miscredit gerieth, so darf doch das ursprüugs
liche, nach der ewigen höhern WTahrheit und Schönheit ge-
richtete Bestreben nicht verkannt und mit den Abwegen ei-
ner spätern Zeit verwechselt werden; vielmehr müssen wir
das Streben nach Darstellung einer vom Geiste durchleuch-
teten, einer vollkommen schönen Welt, als das Endziel der
Kunst,- gleich dem der Weltschöpfung selbst, anerkennen.
Aber als eine Erschlaffung des wiedereruachenden Geistes,
als eine grundfalsche Ansicht muss es betrachtet werden,
wenn die täuscheude Nachahmung der iiussern Erscheinung,
des sogenannten NVirklichen, wenn der Naturalismus für das
höchste Ziel der bildenden Kunst gehalten wird, wie es
doch offenbar der Fall wäre, wenn man dem Künstler ei-
nen Vorwurf machen wollte, dass er nach einer Darstellung
strebt, die über die Erscheinung unserer jetzigen Natur
hinausreicht Indessen treffen wir dergleichen Ansichten
1) Zur Beleuchtung dieses Gegenstandes stehe hier folgende
Stelle aus Schillefs Beurtheilung der Gedichte Matthissoms, die sieh
auch sehr gut auf die bildende Kunst anwenden lässt: „In einem
Gedicht muss Alles wahre Natur sein, denn die Einbildungskraft ge-
horcht keinem andern Gesetze, und erträgt keinen andern Zwang,
als den die Natur der Dinge ihr vorschreibt; in einem Gedicht darf
aber nichts wirkliehe (historische) Natur sein, denn alle Wirklich-
keit ist mehr oder weniger Beschränkung jener allgemeinen Natur-
wahrheit. Jeder individuelle Mensch ist grade um so viel weniger
Mensch, als er individuell ist; jede Empfindungsweise ist grade um