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Rafael an
Castigliozze.
gibt sich aus einer schriftlichen Antwort Rafaefs an den
Grafen Castiglione, welche noch andere interessante Mit-
theilungen enthaltend, folgenden Inhalts ist:
Herr Graf!
Ich habe verschiedene Zeichnungen nach Ew. Herrl.
Angaben gemacht und alle sind damit zufrieden, wenn sie
mir nicht alle schmeicheln. Meinen Anforderungen aber ist
nicht Genüge geleistet, da ich fürchte, den Eurigen nicht
zu entsprechen. Ich sende indessen Ew. IIerrlichlq-it die
Blätter, um einige daraus zu wählen, wenn sie als würdig
befunden werden. Unser Herr, indem er mich beehrt, hat
mir eine grosse Last auf meine Schultern gelegt, nämlich
die Aufsicht über den Bau von S. Peter. Ich hoffe zwar
nicht darunter zu erliegen, um so mehr, als das Modell,
welches ich davon gemacht, Sr. Ileiligkeit gefallen hat und
von vielen schönen Geistern gelobt wird. Aber ich erhebe
mich noch höher in Gedanken: ich wünsche die schönen
Formen der antiken Gebäude zu finden, weiss aber nicht,
ob es der Flug des Icarus sein wird. Vitruv gibt mir ei-
niges Lieht, aber nicht so viel als hinläixlgiich ist. Wiegen
der Galalhea wurde ich mich für einen grossen Meister
halten, wenn die Hälfte der schönen Dinge wahr wären,
welche mir Ew. IIerrl. schreiben; aber ich erkenne in Enern
Worten die Liebe, die Ihr zu mir tragt. Ich muss sagen,
dass, um eine Schönheit zn malen, müsste ich deren meh-
rere sehen, mit der Bedingung, dass Ew. Ilerrlichkeit sich
bei mir befanden, um das Beste zu wählen. Da aber gute
Richter und schöne Weiber selten sind, bediene ich mich
einer gewissen Idee, die mir vorsehwebt. IIat diese nun
etwas gutes in der Kunst, ich weiss es nicht, wohl aber
bemühe ich mich darum. Ew. Herrlichkeit empfehle ich
mich. Aus Rom.
Rafael.
Merkwürdig erschien manchen 'l'heorelikerx1 die Äussee
rnng Rafaefs in diesem Brief, dass er zur Darstellung ei-
ner vollkommenen Schönheit sich einer gewissen Idee, eines
Ideals bediene, und sie glaubten darin eine neue Erschei-
nung in den damaligen Knnstansichten zu erblicken, wo-