Graf B.
Castiglioaze.
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eine grosse Ungebundenheit im Denken und in den Sitten.
Zu dieser Richtung trug nicht wenig bei, dass seit der
Mitte des 15, Jahrhunderts im allgemeinen die höhere Bil-
dung sich ganz dem classischen Mterthum zugewentlethatte,
wodurch zwar ein freierer Blick in die allgemeinen Verhält-
nisse gewonnen wurde und bei edleren Naturen sich ein
wahrhaft humanes und geistvolles Leben entwickelte, aber
zugleich auch im allgemeinen die christlichen Grundsätze
immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurden und
eine Üplmigkeit aufschoss, welche bei den niederen Natu-
ren nur allzugrossen Anklang fand. In der Kunst, welche
wir hier allein zu berücksichtigen haben, sehen wir daher
neben den schönsten Bliithexi auch den nahen Verfall, .dem
sie ilnterlag, sobald der Geist sittlicher Strenge und des
höhern Lebens entwichen war. Rafael ist indessen glück-
lich zu preisen, in einer Zeit gelebt zu haben, in der er
selbst der edelsten einer mit so vielen edeln Geistern im
engsten Verband lebte und durch sie getragen zu einer
Ausbildung in der Kunst gelangte, welche nie von andern
ist erreicht worden, '
Von Rafaels gelehrten Freunden, welche sich längere
Zeit am Hof Leo's X in Rom befanden, nennen wir zu-
forderst als einen seiner vertrautesten, den uns schon be-
kannten Grafen Baldassare Castiglione aus Casatico bei
Mantua. Von Franeesco Maria, Herzog von Urbino, in 'des-
sen Angelegenheiten an den neuerwählten Papst gesendet,
hatte er die Freude seinen innig geliebten Rafael wieder
umarmen zu können. Von Leo X wurde er auf eine aus-
gezeichnete Weise auigenomlnen und fortwährend behan-
delt. Mit Jacopo Sadoleto, Pietro Bembo, Federico Fre-
goso, Filippo Beroaldo dem jiingern, Antonio Tebaldeo,
Andrea Navagero, Agostino Beazzano u. a. m. stand er in
den freundlichsten Verhältnissen," so dass er durch seine
liebenswürdigen Eigenschaften, seine Kenntnisse und seinen
Eifer für Kunst und Wissenschaft ein Mittelpunkt dieses
ausgezeichneten Kreises wurde Rafael malte, wie es
1) wie Sehr er als Gelehrter und als Dichter von classischem
Geschmack bewundert wurde, davon geben folgende Verße" des