90
Kritiken,
Berichte,
Erörterungen.
tonischc Form ein Absolutes, Objektives, für alle Zeiten und Länder Gül-
tigcs geben, und nur rücksichtlich der Zusammensetzung können Ort und
Zeit; eine Verschiedenheit bedingen." Da die architektonischen Kunst-
formen nicht aus diesen Aeusserlichkeiten hervorgehen können, sondern
lediglich und einzig nur als ein Produkt der höheren Geistes- und Ge-
fühlsrichiung einer besondern Zeit zu erklären sind, so kann ihnen keine
absolute Gültigkeit einwohnen, sondernihre Wahrheit, wie die einer jeden
menschlichen Produktion, stets nur eine subjektive, in unmittelbarem Be-
zuge auf Zeit und Nation, sein.
Das Resultat des Verfassers ist: dass in höchstem Grade "und in jedem
Punkte des für unsern Zweck besonders wichtigen Einzelnen der Form,
die griechische Architektur, in ihren beiden Hauptentwickelungs-
Perioden, vor und nach Erfindung und Anwendung des Gewölbes, mithin
im eigentlichen Griechenlande und in der Römischen Weltperiode, jenem
ewigen Grundsatze entspricht." Wer möchte die Herrlichkeit, die Voll-
endung des griechischen Bausystemes, soweit menschliches Vermögen Voll-
endetes schaffen kann, läugnen? Aber auch hier ist die Vollendung eine
subjektive, einseitige, ausschliessende. Der Gewölbebau, mit welchem die
Römer dasselbe vermischten, steht dazu im vollkommensten Widerspruch.
Er erfordert überall, an Säulen, Pfeilern, Wänden, welche die allmählig
emporsteigende Wölbung tragen, eine durchaus eigenthümliche Formirung
der Glieder, eine gänzlich verschiedene von jenen Architekturtheilen,
welche eine direkt abschliessende horizontale Bedeckung zu unterstützen
haben. Wie äusserlich Gewölbe und griechisches Bausystem in der römi-
schen Kunst verbunden waren, braucht keinem Gebildeten wiederholt zu
werden.
Doch fügt der Verfasser selbst hinzu: „Unsere Bedürfnisse, und na-
mentlich die liturgischen sind so verschieden von denen der Alten, dass
leider nur selten das Höchste was die Architektur jemals schuf: der grie-
chische Tempel in seiner Reinheit zu liturgischen Zwecken angewendet
werden kann, und die griechischen Formen einer ganz verschiedenen Zu-
sammenstellung bedürfen, um dieser Bestimmung zu entsprechen. Obwohl
uns aber die leider so sparsam erhaltenen Ueberbleibsel antiker Gebäude,
für die Art dieser Zusammenstellung nur wenig oder gar nichts als Vor-
bild darbieten, so hindert dieses doch keinesweges, dass das, was uns in
dieser Beziehung Noth thut. wieder jenem allgemeinen Grundprincipe ho-
mogen gebildet werden muss und kann, sobald dieses Princip nur erst
T0111 Entwickelt, und in seinen Tiefen erkannt ist." Hierauf scheint die
einfache Erwiderung genügend: dass, wenn die griechische Architektur
eine vollendete ist, auch ihre einzelnen Formen mit Nothwendigkeit aus
der besondern Zusammenstellung der Theile hervorgehen müssen, diese
Formen also nicht mehr dieselben bleiben können, wenn durch ein andres
Princip der Struktur andere Beziehungen und Verhältnisse hervorgerufen
sind. Doch wir setzen voraus, dass der Verfasser seine Ueberzeugung
mehr durch unmittelbares Künstlergefühl, als durch obertlächliehes Rai-
sonnement gewonnen habe, und erwarten die in den Kupfertafeln mitge-
theilte Realisirung seiner Ideen.