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Berichte,
Kritiken,
Erörterungen.
Beispiel in ihre vollen Rechte ein. Diese Rücksichtcn nun bestimmten
das königlich bayerische Staats-Ministerium des Innern, bei welchem mir
die obere Leitung des Bauwesens oblag, schon vor mehreren Jahren, nach
dem Beispiele anderer Staaten, zunächst für den Gebrauch der Regierungs-
Behörden, so wie für die Bauverständigen und Banlustigen, eine Samm-
lung von Bauplänen zu veranstalten, welche theils für die gebräuchlichsten
Arten vQn Gebäuden als Beispiele dienen sollten, theils geeignet wären,
den allgemeinen festen Begriti" architektonischer Regel und Form auch in
Bayern auszubreiten."
"Ich erhielt mithin den Auftrag, ein solches Werk über den Kirchen-
bau zu bearbeiten, um davon zuförderst mehrere hundert Exemplare un-
entgeltlich an die verschiedenen geistlichen und weltlichen Behörden des
Reiches vertheilen zu können."
Der Verfasser erklärt hierauf und wir sind auf jeden Fall damit
einverstanden dass nur die „liturgische Architektur" (d. h. die für reli-
giöse Zwccke bestimmte) zu freier künstlerischer Vollendung führen könne,
dass sie "als das Centrum aller Künste betrachtet werden müsse, welche
von ihm als Radien ausgehen." Und zwar behandelt der Verfasser die
christliche Iriturgil; im Allgemeinen; er findet nicht, ndass Katholicismus,
Protestantismus und einige innere Einrichtungen, wie das Inconostasion etc.
ausgenommen, sogar der griechische Gottesdienst, wesentliche architekto-
nische, sondern nur-mehr dekorative Verschiedenheiten in ihrem Kirchen-
bau bedingen. Der allgemeine moralische und physische Zweck ist bei den
Kirchen aller christlichen Confessionen gleich, und Einzelheiten sollten
und mussten hier unberücksichtigt bleiben."
In jeder Beziehung also nimmt dies Werk unser höchstes Interesse in
Anspruch: sowohl weil es den wichtigsten Gegenstand der Kunst über-
haupt behandelt, weil es das künstlerische Glaubensbekenntniss eines zu
höchster Wirksamkeit berufenen Mannes enthält, als auch Weil es für die
unmittelbare praktische Anwendung auf das Leben der Gegenwart bestimmt
ist. Es ist somit unsre Pflicht, mit grösster Genauigkeit in die Ideen, die
Grundsätze und Leistungen des Verfassers, wie er sie in Text und Kupfern
dargelegt, einzugehen. Wir folgen ihm hierin Schritt vor Schritt, zunächst
durch die einzelnen Kapitel seines Textes.
Kapitel
Frühere
Religionen und ihre
Christenthume.
Beziehungen
zum
Das Resultat, zu welchem der Verfasser in diesem Kapitel gelangt,
besteht darin: ndass der innere Geist, besonders der griechischen Religion,
so viele Beziehungen zum Christenthuine hatte, dass beider liturgische
Bedürfnisse auf ein und demselben architektonischen Wege befriedigt wer-
den konnten." Wenn diese Möglichkeit vorhanden ist (unter liturgischen
Bedürfnissen scheint der Verfasser hier die Erhebung des Gemüthes durch
eine heilige räumliche Umgebung zu verstehen), so beruht sie gewiss auf
andern Gründen. Denn ein jeder gebildete Christ weiss, dass in dem
wichtigsten Punkte, in (lem der lilrlösung, der innere Geist des Christen-
thums so ausser aller Beziehung zu allen früheren Religionen steht, wie
der Himmel entfernt ist von der Erde. Doch der Verfasser ist Künstler:
ihn als Theologen zu beurtheilen, ist nicht unsre Sache.