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Fragmente
Theorie äer Kunst.
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Das architektonische System, in welchem das malerische Element zur
vollen und entschiedenen Erscheinung kommt, ist das des sogenannten
Rocoeo. Der Rococostyl hat von der Behandlung der Architektur im
Sinne der Antike (auf welcher überhaupt dcr Kreis der modernen Bau-
weisen fusst) die Massenwirkung beibehalten, die für das Malerische die
zunächst erforderliche Grundlage ist. Er hat indess die strenge, herbe
Festigkeit, die für die Anordnung der architektonischen Masse in der an-
tiken Kunst so wesentlich bezeichnend, dabei aber der Entfaltung male-
rischen Reizes noch minder günstig ist, als das vibrircnde Leben des go-
thischen Baustyles, verlassen; er hat die Masse mannigfacher getheilt, Ü"
gelegentlich einen weicheren Schwung gegeben, sie in einer Weise deko-
rirt, dass die bedeutsamen Stellen dem Auge in strahlender Lebhaftigkeit
entgegenspringen. Es bildet sich in solcher Art ein Wechselverhältniss
zwischen den verschiedenen Theilen des Gebäudes, welches, je nach dem
Charakter der Beleuchtung, das Auge mit eigenthümliehstem Rhythmus
berührt, welches den vorragenden Liehtstellen, in ihrer oft sehr raftinirten
bildnerischen Behandlung, eine, ich möchte sagen: edelsteinartige Wirkung
giebt, diese von dem ruhigeren Schattentone der Tiefen frappant abstechen
lässt und sie doch wieder durch bewegte Uebergänge mit denselben ver-
bunden erhält. lst die Luft der Art beschallen, dass ihr Fluidum dem
das Gebäude betrachtenden Auge mit Entschiedenheit sichtbar wird, so
erhöht sie jene Licht- und Schattenspiele um ein Wesentliches, indem
durch die grössere oder geringere Stärke ihrer Schleier jene Gegensätze
nothw-endlg einen doppelten Reiz gewinnen, und sie, als selbständige
Trägerin des Lichtes, die Reflexe desselben in die Tiefen hineintragend,
das harmonische Gesammtverhältniss wesentlich erhöht. Es giebt unter
den Werken des Rococostyles Treppenhallen, die mit ihren einfallend
geschlossenen und in die verschiedenen Tiefen hineinspielenden Lichtern,
es giebt Verbindungen von Pavillons, Gallerieen u. dergL, die im
Schimmer einer verschieden abgestuften Morgenbeleuchtung unbedenklich
zu dem Vollendetsten an malerischer Wirkung gehören, was das ge-
sammte Material der Geschichte der Baukunst aufzuweisen hat. Diese
Verdienste der Gesammt-Composition dürften sich nicht selten auch in
der Behandlung der architektonischen Details nachweisen lassen.
Ueberhaupt möchte es für die Ausrundung der ästhetischen Würdi-
gung der Architektur nicht unwichtig sein, diesen Beobachtungen an den
einzelnen Denkmälern näher nachzugehen und dadurch die Gesetze des
Malerischen in der Architektur umfassender und bestimmter darzulegen,
als- bisher geschehen zu sein scheint. Es ist vielleicht der, durch so viel
andre und oft so sehr gültige Umstände veranlasste Widerwille gegen den
Roeocostyl, was der Durchführung derartiger Beobachtungen bisher hem-
mend im Wege gestanden hat; die neuste, flach dilettantistische Wie-
deraufnahme von Rococodekorationen hat dafür noch keinen Ersatz geben
können.
Jedenfalls aber wird das Eine dabei festzuhalten sein: dass, wie zum
vollen Verständniss des gothischen Baustyles ein volles.Versenken in den
Lebenspuls seiner Formen nöthig ist, so der Rococostyl, als der aus-
schliesslich malerische, ein entschiedenes Freihalten des betrachtenden
Individuums von seiner Erscheinung, ein unbedingtes Gegenüber er-
fordert. Das Gebäude des Rococostyles wirkt vor Allem als Bild, als ein
mannigfaeh wechselndes je nach de'm Wechsel des Lichtes und der Luft-