Volltext: Kleine Schriften über neuere Kunst und deren Angelegenheiten (Bd. 3)

das 
Ueber 
der Architektur. 
Malerische in 
749 
III. 
Ueber das Malerische in der Architektur. 
Das Malerische beruht vor Allem darin, wie Luft- und Lichtwir- 
kungen an einem Gegenstande zur Erscheinung kommen. Die Werke der 
Architektur. in dem Wechsel der Massen, der massenhaft starren und be- 
wegt gegliederten Theile, des räumlichen Vorsprunges und der räumlichen 
Tiefe, werden zur Entwickelung malerischer Momente vielfache Gelegen- 
heit bieten. Aber ihr Verhalten in malerischer Beziehung  abgesehen 
natürlich von den Spielen des Zufalls bei dem zufällig Zusammengebau- 
ten  wird bei den verschiedenen architektonischen Systemen sehr ver- 
schiedenartig sein. 
Gewöhnlich gilt das gothischc Bausystem als das vorzüglichst male- 
rische, und in der Tlrat hat sowohl das Ganze des Bauwerks in dieser 
Beziehung oft eine bedeutende Wirkung, als sich dabei nicht minder, ge- 
legentlich wenigstens, sehr frappante Einzelmomente bemerklich machen. 
Gleichwohl lässt sich behaupten, dass das Malerische auch hier nicht zur 
charakteristisch entscheidenden Erscheinung kommt. Das gothische System 
ist zu ausschliesslich, zu sehr bis in den letzten Calciil, auf eine organische 
Gliederung aller Einzeltheile des Gebäudes berechnet, als dass die für 
das Malerische nothwendigen Gegensätze hier ihre Stelle fanden. Dies 
wenigstens bei der vollkommenen Durchbildung des Systems, während 
bei den Gebäuden, die einer minder vollkommenen Richtung angehören, 
eine gewisse Starrheit und Kälte der Formenbilduizg vorrherrscht, welche 
der Entfaltung malerischen Reizes wiederum in andrer Weise hemmend 
entgegensteht. 
Die "höchstentwickelte organische Durchbildung in der gothischen 
Architektur hat, für das Auge des Beschauers, eine Entwickelung der Li- 
nearperspectlve zur Folge, wie solche uns in ähnlicher Reichhaltigkeit bei 
keinem andern architektonischen Systeme entgegentritt. Auf diesen vi- 
brirßlldell Linien 111111,  wie auf den Saiten eines musikalischen Instru- 
mentes,  laufen allerdings mannigfache Spiele von Licht und Luft hin, 
dem Auge eigenthiimliche Elemente malerischer Wirkung entfaltend. Aber 
das Auge verliert sich in diesem fort und fort zitternden Spiele; das ma- 
lerische Element, welches hier vorhanden ist, kommt nicht zur Sammlung, 
zur Haltung. Das gothische Bauwerk soll eben vor Allem als ein durch 
und durch organisch gegliedertes empfunden werden; der betrachtende 
Geist soll sich gewissermaassen identiiiciren mit dem diese Gliederungen 
durchhauchenden Leben, mit ihnen sich erheben, mit aufstrahlen in den 
Pfeilern, sich mit schwingen in den Wölbungen, mit hinausranken in den 
Thürmchen, mit ausbliihen in den Blumen der Gipfel. Das gothische 
Architekturwerk begreifen wir vollständig nur, wenn wir uns durchaus in 
dasselbe versenken: seine Gegenständlichkeit,  uns gegenüberstehend, 
unsrer Schau ein Bild gewährend, ist doch nur von bedingter Schönheit 1). 
O 
 An der durchbrochenen gothischen Thurmspitze decken sich die Verzie- 
rungen und Durchbrechungen nur für einen einzigen Standpunkt in harmonischer 
Weise,  für hundert und aber hundert Standpunkte nicht. Das reiche System 
der Strebepfeiler und Strebebögen um den Chor  einer der höchsten Triumphe 
Organischer Durchbildung in der Architektur  giebt für keinen Standpunkt 
ein reines Bild.
	        
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