Von
der
Erfindung
Baustyla.
TIGUGP
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in denen die 'l'radition ungebrochen gültig war; ihre Bedeutung liegt dem
Bewusstsein des Volkes nicht mehr vor und müsste daher ebenso erst
zurückerobert werden, wie für neue heilige Zwecke (z. B. für die mannig-
fach versuchte Gestaltung der protestantischen Kirche) die traditionell
gültige Grundform noch erst festzustellen wäre. Wir sind, äelbft hüllte,
nicht gewillt, die Tradition zu verläugnen; aber sie kann, wie die Dinge
stehen, höchstens nur einen vereinzelten, bedingten Einfluss auf die mog-
liche Fortbildung der architektonischen Kunst haben.
Der Einfluss des Materials und der technischen Constructlon auf die
künstlerische Gestaltung der Architektur ist auch nur ein bedingten aber
er muss sich, in dieser seiner Bedingtheit, _zu allen Zeiten und unter allen
Umständen auf gleiche Weise geltend machen. ln dem Material und in
der Weise seiner Verwendung liegt die Realisiruug des künstlerische"
Gedankens, in seinem Gesetz die Vernunftdes architektonischen Werkes
eingeschlossen. Es giebt zwar Kunststücke, die auch das Donstructioiis-
widrige möglich machen; aber der natürliche Sinn fühlt sich unwillkur-
lich von ihnen zurückgestossen. Der künstlerische Gedanke kann mit
diesem Bedingniss seiner Erscheinung überall nur Hand in Hand gehen;
ja, er ist eigentlich nur ein idealer. ein freier Ausdruck dessen, was iii
dem Naturgesetz noch geistig gebunden erscheint. Das letztere ']St daher
geeignet, ihm die wesentlichste Anregung zu geben, der inaterielleAus-
gangspunkt daher der entschiedeiisten Berücksichtigung wertli. In diesem
Betracht aber liegt in unsrer Zeit, in den mannigfachen Nützlichkcits-
bauten, die stets neue und neue materielle Combinationen hervorgerufen
haben, wahrhaftStaunensxiverthes vor. Das Eisengerippe des ungeheuren
[udustrie-Ausstellungs-Gebäudes in London steht wie ein Naturwunder
vor IIIJSCYII Augen, und es geht wie eine mächtige Ahnung künftiger künst-
lerischer Erscheinungen durch unsre Brust, wenn wir die starren Formen,
die hier dßf trockne, aber freilich riesige Calcül verbunden hat, geistig
belebt, das heisst: wenn wir die Naturkraft, die in ihnen waltet, in ihrer
Erscheinung ebenso lebendig dargestellt und gegliedert denken, wie der
Steinbalkenbail in der griechischen, der Kreuzgewölbebau in. der: germani-
schen Architektur (in beiden freilich den sonstigen Zeitbedingnissen ent-
sprechend) künstlerische Belebung gefunden hat.
Es kommt scliliesslich eben auf den künstlerischen Geist an,_der_ die
Gabe des Himmels ist. Aber Gott sendet den Künstler nicht wie einen
gewappneten Erzengel auf die Erde; es ist nur der lxeiiii, den er in die
Brust des Menschen gelegt hat und der genährt undgeptlegt, mit Weisheit
auferzogen und mit sinnvollem Verständniss. ausgebildet sein will. Diese
Ausbildung empfängt er, zumal was die ideale Kunst der Al-(jhllßktlll
anbetrifft, durch die Anschauung und künstlerische Durchforsuhllng df"
Werke, die im Laufe der vergangenen Jahrhunderte entstanden Slfld: Dies
ist jenes ästhetische Vermächtniss, deSsßIl Bßfltzefgfelfung erst Äh" dl"
Wahrheit befähigt, sich auf die Höhe seiner Zeit zu stellen. Er hat] ic
Stylgesetze der verschiedenen Epochen der Kunst sich klar zu macien,
um zu lernen, wie die materielle Aufgabe aus ihrer dumpfen Starrheit
zu lösen, geistig zu beleben und in dieser Belebung zu gliedern, W16 dem
geistigen Bedürfen der Zeit durch solche Belebung des materiellen _Pio-
biems der volle wahr-hafte Ausdruck zu geben ist, die künstlerische
Formensprache zu lernen, aber nichtqals ein zufalligos Congloinerat zu-
fälliger Regeln, sondern als ein von geistigem Athem Durclidrungenes und