Briefe.
Berliner
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dergleichen mitzuerleben vergönnt ward. Aber es passirt auch allerlei in
Leben und Kunst, das die Menge jubelnd beltlatscht und dessen Berech-
tigung zum Dasein uns doch nicht sonderlich einleuchten will. Wir wissen
aus der Geschichte, wieviel Scheingrössen gefallen sind, und wir meinen,
manchem glanzvollen Thun der Gegenwart auch sein Horoskop stellen zu
dürfen. Denke ich nun bei solcher Stimmung an die letzten Jahre unsrer
hiesigen Kunst zurück, so finde ich in dieser Frist ebenfalls wohl ein-
zelnes Hohe und Schöne, aber die grössere Masse des Unternommenen,
die vorherrschende Gesammtrichtung hat mich nicht allzu lebhaft erfreuen
können. Ich habe darin im Ganzen mehr Schein als Wesen gesehen; die
Dinge kamen mir in hundert Fällen gemacht, absichtsvoll, spielerisch
vor; ich vermisste darin vor Allem den Ernst der Ueberzeugung, der bei
jeglichem Thun des Menschen, und so auch bei der Kunst, doch wohl
das erste Bedingniss ist. Neben einzelnem Gediegenen trat mir allzu viel
Dilettantismus entgegen: es war mir, aufrichtig gesprochen, unbequem, ihm
durch all seine kleinen und grossen Irrgänge nachzufolgen. lndess ist ein
stürmischer Tag gckßmmell, der manchen Schein zerstieben gemacht hat.
Ich glaube, dass das Nachwehen dieses Sturmes auch unser friedliches
Kunstgebiet treffen wird. Auch hier wird es sich vermuthlich zeigen, was
auf festen Pfeilern und was (wie etliche Strassen in der Nordwestecke
Berlins) auf beweglichem lnfusoriengrunde gebaut war. Vielleicht, dass
mit jenem Tage auch für unsre Kunst eine alte Epoche abgeschlossen ist.
Da mag sich's denn wohl ziemen, auf einen Augenblick still zu stehen
und über unser Gebiet eine rasche Rundschau zu halten. Es handelt sich
um unsre Zukunft, für die der Blick über die, wenn auch nicht durchweg
erfreuliche nächste Vergangenheit nicht ganz ohne Frucht sein wird.
Wir halten uns hier kürzlich in den ersten Anfängen unsres neuen
constitutionellen Lebens zu versuchen; wir hatten Deputirte zu wählen für
unsre preußische, allßh für die allgemeine deutsche Nationalversammlung.
Man hielt die gemeinsamen Vorberathungen dazu in dem Uonzertsaalc
des Sßhallsllielhaüses- Sie kennen das Gebäude; Sie wissen, dass
dasselbe eine der gediegensten Leistungen unsres Ilnvergesslichen Schin-
kel ist. Der grosse Saal mit seinen lauteren griechischen Formen hallte
diesmal nicht von den Beethoverfschen Symphonieen, sondern von dem
stürmischen Kampfe politischer Parteien wider. Doch gab es, wie man sich
Tag t'ür Tag an derselben Stelle wiederfand, immerhin Augenblicke genug,
da das Auge sich an dem harmonischen Einklange dieser Formen erfreuen,
an ihrer stillen Einfalt Ruhe und Befriedigung suchen konnte. Auch
traten nicht allzu selten Redner auf, deren Worte keinen sonderlißhßll
Gewinn verhiessen, so dass man es vorziehen durfte, sich in den klei-
neren Vorsälen und Seitenräumen zu ergehen. Ich habe in jenen Tagen
manches Absonderliche in politischer Beziehung gelernt, aber ich bin, was
mir nicht minder werth ist, gleichzeitig dazu gekommen, die künstlerische
Totalität dieses schönen Lokals umfassender und vollständiger denn bis-
her in mich aufzunehmen. Welch ein kensches Ebenmaass, welche reine
Gesetzlichkeit, welch ein klar bewusstes Wollen tritt in dieser Kunst-
Schöpfung uns überall entgegen! Und wie durchdringt dieser hohe und
reine Geist die sämmtlichen übrigen künstlerischen Kräfte, die in Male-
reieti und Sculpturen zur würdigen Ausstattung jenes Lokales mitgewirkt
haben! Wie werden wir selbst mit den schwächeren der hier befindlichen
Leistungen bildender Kunst doch durch eben (lenselben trnx-werltennharcir