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Berichte,
Kritiken
Erörtel
lngen.
gegriffen werden. Zum Erkennen des vorhandenen Talents soll eine (mit
richtigem Sachverständniss näher dargelegte) Probe angewandt und, wenn
diese glücklich bestanden, nach einem Zeitraum von etwa sechs Monaten
über den Beruf des Schülers definitiv entschieden werden. Auch dies
scheint im Allgemeinen richtig und zweckgemäss; das Zeichnen nach Vor-
legeblättern muss für den, der wahrhaft künstlerisch begabt ist und also
das Auge für die Natur besitzt, überflüssig sein und somit eher hemmend
als fördernd wirken j die möglichst zeitige Handhabung des Pinsels ge-
wöhnt von vornherein an unmittelbare Aufnahme der vollständigen Na-
turerscheinung, während die Schattenz eichn u ng in der "fhat nur eine
künstlich vermittelte Abstraction derselben ist. Doch möchte es gut sein,
den letzten Grundsatz nicht allzu ausschliesslich in Anwendung zu bringen,
Alles Wesentliche soll ferner im Studium des lebenden Modells ge-
lernt und, wie das Kopiren älterer Gemälde, so namentlich auch das Stu-
dium in der Darstellung der Antike ganz ausgeschlossen bleiben oder doch
nur höchst ausnahmsweise verstattet sein. Hier, muss ich gestehen, habe
ich zunächst ein erhebliches Bedenken gegen die Grundsätze des Verfas-
sers. Allerdings zwar wird auf unsern Kunstschulen zumeist ein gfOsser
Missbrauch im Zeichnen nach der Antike getrieben; indem man diese
Uebung Jahre hindurch fortsetzt, gewöhnt sich der Schüler an eine gg-
wisse conventionelle Correctheit, der es an Gefühl für das frische Leben
und dessen reiche Mannigfaltigkeit fehlt, und, was noch schlimmer ist,
verwöhnt sich sein Auge durch den steten Blick auf den kalten Gyps
dermaassen, dass später, wenn er zur Farbe greift, der harte kreidige Ton
desselben nur zu häufig durch alle seine Malereien hindurch klingt. Doch
aber wird die Antike ohne Zweifel eine sehr wesentliche Bedeutung, wie
für die heutige Kunst überhaupt, so auch für die Kunstbildung behalten,
vorzugsweise desshalb, weil sie die Mängel-in der körperlichen Durchbil-
dung, die unsre Modelle in der Regel haben und selbst haben müssen,
auf die vollkommenste Weise ergänzt. Fast durchweg sind unsre Modelle,
auch die besseren, nur theilweise wohlgebildct; eine vollkommene kÜrper-
liche Entwickelung fehlt, weil keine körperliche Pflege (wie durch die
Gymnastik der Griechen) vorhanden ist; einzelne Theile des Körpers sind
durch unser nordisches Kostüm in der natürlichen Ausbildung geradehin
verkümmert. Alles diess ist in den antiken Seulpttiren, welche nach den
edelsten Modellen die edelste Natur darstellen, wesentlich anders, und sie
werden daher stets dazu beitragen, den rohen Natnrsinn zum Sinn für den
gesetzmässig entwickelten Organismus, zum Sehönheitssinn auszubilden, so
sehr es übrigens, wie sich von selbst versteht, zugleich im Interesse der
Kunstbildungs-Anstalten liegen wird, stets möglichst. schöne Modelle zu
gewinnen, und so manche fördernde Einrichtung auch für diesen Punkt
noch möglich zu machen sein dürfte. Mit einem Wort: es scheint uner-
lässlich, wenigstens neben dem Studium des lebenden Modells auch das
der Antike fortgehen zu lassen. Das Kopiren von Gemälden, wenigstens
von einigen Studien, möchte auch keinesweges ganz verwerflich sein, da
es beim Malen doch zunächst auf Kenntniss des Materials und der nöthig-
sten Handgriffe ankommt und es wohlgethan sein dürfte, dem Schüler
hierin wenigstens einige Sicherheit zu geben, bevor er zur Nachbildung
des farbenreichen Lebens angewiesen wird. Doch kann die erste äussere
Praxis auch wohl vortheilhaft in der Darstellung und Nachbildung leb-
loser Gegenstände, Gewandstoffe u. dergL, erlernt werden.