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Jahr
Kunstreise im
1845.
strengen, trocken stylistischen Weise, dem Poussin verwandt, ausgeführt.
Es hat etwas Tendenziöses und bildet darin einen sehr entschiedenen
Gegensatz gegen Raphaels Schule von Athen und die unschuldsvolle Nai-
vetät, weichedies Werk erfüllt. Es ist mit sorglicher Genauigkeit gemalt,
aber ohne Wärme, Hauch, Gesammtwirkung; es führt uns, trotz alles
Vortrefflichen im Einzelnen, nicht unmittelbar in eine hohe Existenz ein.
Ja, es scheint sogar, dass das lange und ängstliche Studium (in diesen und
in den andern Bildern, die ich von Ingres gesehen), den Künstler im
Detail kleinlich macht.
Ganz anders, als jenes Deckenbild, erschien mir eine Zeichnung von
lngres, die ich bei Hrn. Gatteaux, Bildhauer und Medailleur, sah: eine
antike Kampfscene mit einer Nike in der Mitte. Hier war Alles frisch. frei,
unmittelbar und gross. Aehnlich frei und leicht soll er überhaupt cornpo-
niren. Auch einige Portraitzeiehnungen von seiner I-land, ebendaselbst,
waren leicht und sehr geistreich hingeworfen. Vielleicht ist lngres mit
unserm Carstens zu vergleichen; und es mag auch irgendwo in seinem
Bilduugsgange liegen, dass er nicht zur freien Herrschaft über den Stoff
im Grossen gekommen ist.
Ingres ist für die Franzosen eine Art von Regulator innerhalb des
wirren Treibens ihrer gegenwärtigen Kunst. Man bezeichnet ihn als einen
Mann des ernstesten, strengsten, bestimmtesten Wollens. Man erzählte
mir, wie er, als die alte David'sche Schule in allerlei Schwächen und
Verzerrungen entartet war, als die jüngeren Reformer, mit ihrem Farben-
reichthum und ihrer kräftigen Naturalistik sich zuerst hervorgethan hatten,
als diese eine jubelvolle Aufnahme fanden, ihr neues-Princip aber bei
ihren Nachahmern sofort wiederum in fratzenhafte Verzerrungen über-
schlug, wie da allein lngres es war, der sich dem Strome enlgenstellte,
die Künstler zum Ernst, zum sinnvollen Durchdringen ihrer Aufgabe, zur
Heilighaltung der Kunst, zum Maasse zurüekrief. Es war gerade der
rechte Augenblick; dasßedürfniss, das sich so fühlbar gemacht hatte,
führte ihm eine ausserordentliche Schülermenge zu, die sein Wort begei-
sterte, sein begeisterter Ernst fest zusammenhielt. Die Reden, die er sei-
nen Schülern im Atelier gehalten und in denen er sie zu einem würdigen
Kunststreben aufgerufen, sollen sie oft bis zu Thränen durchschüttert ha-
ben. Die Besten der Nation zollten ihm und zollen ihm noch heute eine
unbegrenzte Verehrung.
Sieht man daneben seine Bilder an, so muss man sich freilich, um
das Alles zu begreifen, entschieden auf den französischen Standpunkt ver-
setzen. Es ist doch wieder nur, dem Wesen nach, dasselbe, was Poussin
und Lesueur, was Corneille und Raeine erstrebt hatten. Das Erhabene,
das Maass, das Gesetz, der Styl, kurz dasjenige, was diese Darstellun-
gen und Dichtungen über das Gemeine erhebt, ist doch mehr nur ein Pro-
dukt äussererVerständigkeit. als einer innerlich empfundenen Nothwendig-
keit. Aber es scheint wirklich, dass die Franzosen nur jenes kennen und
dass es uns unmöglich wird, uns mit ihnen über diese Unterschiede zu
verständigen.