Vorlesul
das
über
historische
Museum
Versailles
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gebildet, aber sie haben vorerst keine selbständige Gültigkeit, kein eigen-
thümliches Leben; sie sind die willenlosen Th-äger des Gedankens, auf
den es hiebei allein ankommt. Lange Jahrhunderte gehen vorüber, ehe
der Bildner es wagt. aus dem Kreise. in den der Gedanke ihn gebannt
hatte, herauszutreten, ehe er es erkennt, dass jene der Natur entnommenen
Zeichen Berechtigung auf ein selbständiges Dasein haben, dass es nöthig
ist, dem Zeichen dem Gegcnstande der Darstellung dies selbständige
Dasein zu geben und es aus dem Sklaven des Gedankens zum frei Ver-
bündeten desselben zu machen. Erst mit diesem Erkenntniss beginnt die
freie Kunst; doch abermals vergehen Jahrhunderte, ehe die Freiheit wirk-
lich erreicht wird.
ich muss es mir versagen, auf die Gründe dieser merkwürdigen Ent-
wickelungsverhältnisse näher einzugehen. Thatsache ist es, dass diejeni-
gen künstlerischen Darstellungen, in denen es auf die Naehbildung der
natürlichen Erscheinung vorzugsweise ankommt oder anzukommen scheint.
erst am Schluss der künstlerischen Entwickelungsperioden hervortreten.
Das Portrait, die Landschaft und Aehnliches der Art gehören, wie auf.
fallend es uns auch erscheinen mag, unbedingt zu den jüngsten Kunst-
fächern.
Aus denselben Verhältnissen erklärt es sich, dass auch die historische
Malerei, im engeren Sinne des Wortes, d. h. diejenige Gattung der
Malerei, welche die Aufgabe hat, wirkliche historische Vorgänge uns zu
vergegenwärtigen, zu diesen jüngsten Kunstfächern mitgezählt werden
muss. Sie ist so jung, dass sie ihrer wahren Entwickelung nach erst der
neusten Zeit angehört und dass hiemit erst der Anfang gemacht ist.
Die Richtigkeit der Thatsache ergiebt sich bei einem flüchtigen Blick
auf die früheren Kunst-Epochen.
_Im Mittelalter bewegen sich die bildlichen Darstellungen fast aus-
schliesslich im religiösen Gebiet; den Stoff dazu geben die Bibel und die
Legende her, denen sich dann mancherlei symbolisches und allegorisches
Element anreiht. Diese Gegenstände werden theils in einem idealen,
kirchlich sanctionirten Typus, theils ganz naiv, als der Gegenwart des
Künstlers angehörig, behandelt; die Vergegenwärtigung einer charakteri-
stisch bestimmten historischen Epoche wird bei ihnen nicht erstrebt. Bis
in die neuste Zeit ist für die biblischen Darstellungen jener ideale Typus
wenigstens vorherrschend geblieben. lm früheren Mittelalter kommen
daneben allerdings einzelne Aufgaben zeitgeschichtlichen Inhalts vor, in
denen der Natur der Sache nach der eigenthümliche Charakter der Zeit
festgehalten werden musste. So liess König Heinrich I. im Sehlosse zu
Merseburg seinen Sieg über die Ungarn malen; so hat sich noch auf unsre
Zeit eine gestickte Borte von 210 Fuss Länge erhalten, auf welcher die
Thaten bei der Eroberung Englands durch Herzog Wilhelm von_der Nor-
mandie dargestellt sind. Man schreibt diese Arbeit, die in der Kunst-
sammlung zu Bayeux aufbewahrt wird, der GemahlinWilhelms, Mathilde,
oder ihrer Enkelin, der Kaiserin Mathilde, zu. Die darauf enthaltenen
Darstellungen aber sind noch gänzlich rohe Typen, ohne alles individuelle
Leben, eben nur eine Schrift in Bildern; ähnlich wird auch jene Merse-
burger Malerei beschaffen gewesen sein, wenn gleich Luitprand, dem wir
die Nachricht verdanken, sagt: man sehe darin mehr eine wirkliche als
eine wahrscheinliche Sache vor sich. Mit dem höheren Aufschwunge der
mittelalterlichen Malerei, seit Cimabue, verschwinden ohnehin die Aufgaben