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Berichte,
Kritiken, Erörterungen.
für jenes Baisonnement. Es ist wiederum der Streit über Lessings lluss
und über die Bilder von Gallait und de Biefve, um den es sich hier vor-
nehmlich handelt, doch ist über diese Punkte seither nicht gar Vieles ge-
sagt worden, was sich an Geist und Urtheilskraft mit diesen Bemerkungen
messen könnte. Ich will damit nicht sagen, dass der Verfasser nicht auch
von aller Einseitigkeit frei wäre. Er kämpft einseitig für das Verdienst
unsrer niederländischen Freunde; er gesteht es Lessing an ein Paar Stellen
zu, dass er wesentliche Verdienste um die Entwickelung der neueren deut-
scheu Kunst habe, aber er lässt dies so allgemein gesagt sein, während er
doch sehr scharf in seine Mängel und in die der gesammten Düsseldorfer
Schule eingeht. Er legt diesen Künstlern ihren Mangel an freier und rei-
ner Objectivität zur Last; aber er übersieht es, dass die Subjectivität, die
in der Düsseldorfer Schule wie überhaupt seit mehreren Jahrzehnten
in der deutschen Kunst, wenn andern Orts auch anders gestaltet, vor-
herrscht, ebenfalls ihr grosses Recht hat, und dass hicrlurch vielmehr, als
durch ein gewisses wohlfeiles Verständniss ihrer Technik, ihre grosse
Wirksamkeit begründet wurde. Unsre Kunst musste wieder subjectiv wer-
den, wenn sie einen höhern Schwung nehmen sollte, wie gefährlich auch
diese Bedingung sein mochte, wie leicht sie auch zur Manier führen konnte.
Ein ausgezeichneter Künstler unsrer Tage sagte mir einmal, Lessing sei
kein Maler, er sei ein malender Dichter; daher bei ihm und bei der gan-
zen Schule jene sorgfältige Ausbildung der Schrift, d. h. der Behandlung
und Darstellung des Einzelnen, während das eigentlich künstlerische Ele-
ment, das der malerischen oder bildlichen Gesammtwirkung, wesentlich
zurückstehe. Aber auch im Fall wir dieses zugeben, so wertlen wir doch
immer seine Dichterkraft, die so lebendig zum Ausdrucke kommt, schätzen
und bewundern können. Aber freilich dürfen wir in der Subjectivität nicht
verharren; wir müssen uns, nachdem dies Stadium der Entwickelung nun-
mehr absolvirt ist und nachdem es namentlich in Lessings Huss mit dem
Culminationspunkte, mit der geistvollsten Entfaltung zugleich auch, wie es
scheint, seine ganze Einseitigkeit dargethan hat, der objektiven Realität
der Natur, ihrer frischen Unmittelbarkeit und vor allen Dingen ihrer vol-
len kräftigen Totalität aufs Neue zuwenden, wenn wir überhaupt weiter
schreiten wollen. Das ist ein Gefühl, das uns schon lange und immer
eindringlicher beschlichen hat, bis die beiden belgischen Bilder nach-
dem kleinere Bildersendungen aus Frankreich, in ihrer entgegengesetzt ein-
seitigen und zum Theil zerfahrenen Realistik, keineswegs durchzudringen
vermocht plötzlich mit so durchgreifendem Erfolge auftraten. Das ist
cs, worauf auch der Verfasser der vorgenannten Schrift mit einem höchst
gesinnungsvollen Ernste und mit einem ächt künstlerischen Verständniss
dringt. Sein kleines Buch enthält die geistvollsten Analysen der künstle-
rischen Technik, als des nothwendigen Ausdruckes für den geistigen In-
halt. Dies ist der Ausgangspunkt seiner ganzen Weise der Auffassung und
Beurtheilung. Seine Richtung ist durchweg die ausgebildet malerische,
gegen die wir uns, wenn wir den Blick auf die grossen Endresullate der
frühern Blüthezeit der Kunst wenden, nicht wohl verschliessen können,
wenn wir auch zugeben müssen, dass dem Urtheil noch andre Ausgangs-
punkte zustehen. Er bezeichnet demgemäss die beiden belgischen Bilder
als „Eisenschienen"., die die neue Kunst mit der alten verbinden, und er
findet sich dann, rückwärts gehend, veranlasst, die künstlerischen Ver-
dienste der grossen Niederländer des sicbzehnten Jahrhunderts, besonders