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Berichte,
Kritiken,
Erörterungen.
durch die Belgier so mächtig wirkten. Und dann, wenn ich mir etwa
Overbeclds Meisterwerke, wenn ich mir die Schöpfungen Ihrer grossen
Meister von München in die Erinnerung zurückrufe, welcher gedanken-
volle Ernst, welche besonnene Einfalt, welches majestätische und zugleich
anmuthvolle Gleichrnaass in Formen und Linien! und in allen diesen
Dingen wiederum, eine wieviel höhere Entwickelung als bei jenen Bel-
giern! Aber tritt uns auch in den Werken dieser Meister jene volle
Unmittelbarkeit der Existenz entgegen? müssten wir nicht vielmehr Gefahr
laufen, auf diesem Wege, ohne weitere Entwickelungsmomßnfß, gar in
eine conventionelle Manier zu gerathen? und sind im Einzelnen nicht schon
dießymptome davon zu erkennen? Wir haben Grosses erreicht, um das
alle unsre Nachbarn uns beneiden müssen; aber sollen wir darum stehen
bleiben? Stillstand ist Tod, in der organischen Welt, wie in der des
Geistes.
Seien wir aufrichtig, lieber Freund! Unsre Kunst hatte bisher ein
gewisses exclusives, ich möchte sagen, aristokratisches Element in sich.
Sie entwickelte sich ich mcine unsre neuere Kunst in einem zers
fahrenen Zeitalter, in welchem auch die kräftigsten und rüstigsten Talente,
deren es gar wohl unter unsern Vorgängern gab, auf der Bahn des Alten
keine neuen Erfolge mehr zu erreichen vermochten. Da zogen sich die
Geister, welche den Puls der neuen Zeit in sich fühlten und den Drang
zu einer neuen Gestaltung des Lebens in ihrer Brust trugen, von dem Ge-
wühl des Marktes zurück und liessen in ernster, gedankenvoller Stille das
NVerk solcher Erneuung reifen. Dass sie den rechten Weg eingeschlagen,
bezengte ihnen die bewundernde Anerkennung der Besten ihres Volkes
Aber sind glücklicher Beginn und Vollendung schon eins und dasselbe?
Man fühlt es den Werken dieser Männer an, dass sie aus der, allerdings
nothwendigen Zurückgezogenheit, aus der Contemplation, aus der geistigen
Flucht vor dem Leben entstanden sind; die hohen Resultate, die sie brin-
gen, stehen dem Leben dennoch in einer gewissen Entfernung gegenüber,
Daher verzeihen Sie, wenn ich, um mich deutlich zu machen, die Far-
ben stark auftrage daher auf der einen Seite diese Stylistik, deren Er-
starrung wir befürchten müssen, auf der andern dies Gefühlsleben, das ins
Gestaltlosc verschwimmen zu- wollen scheint. Die Kunst soll aber dem
Leben nicht fremd bleiben; im Gegentbeil, es ist ihr Beruf, das Leben in
seiner vollen frischen Unmittelbarkeit zu durchdringen und sich selbst
davon durchdringen zu lassen. Die Schätze, die in geheimer, stiller Grube
gegraben sind, müssen wieder auf den Markt, unter das Volk llillausge-
tragen werden; unsre Kunst muss jenem aristokratischen Element dem,
ohne das würde sie freilich gleich von ihrer Höhe hinabsinken als
nothwendiges Gegengewicht ein demokratisches zugesellen.
Und sollen wir uns nun nicht freuen, wenn ein verwandtes Nachbar-
volk uns ein Paar künstlerische llllraisterwerke zusendet, aus denen dies
letztere Element in seiner freudigen Kraft hervorlcuchtet? Ja, ein demo-
kratisches, in der ganzen, kecken Bedeutung des Wortes! Wie sich die
niederländische Kunst, wohl nach dem Vorgange der französischen, dahin
entwickelt hat, will ich hier nicht näher auszuführen versuchen; ich kann
es auch nicht, da mir die genaueren Kenntnisse ihres neueren Entwicke-
lungsgangcs fehlen. Dazu aber bedarf es keiner grossen Divination, um
zu erkennen, dass das, was sich in den Meisterwerken der heutigen fran-
zösischen und belgischen Kunst ob vielleicht auch in beschränkten