Volltext: Kleine Schriften über neuere Kunst und deren Angelegenheiten (Bd. 3)

Ueber 
Systeme 
die 
des 
Kirchenbauus. 
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dass ich auch darüber und über das, was mit demselben zusammenhängt, 
noch ein Wort sage. Man hatte schon in der altchristlichen Zeit neben 
der llauptform der Basilika noch eine andre Form der architektonischen 
Anlage für religiöse Zwecke in Anwendung gebracht. Dies ist das soge- 
nannte Baptistcrium, das ausschliesslieh für den Zweck der Taufe er- 
richtet wurde. Das Baptisterium, zunächst ebenfalls nach dem Muster 
antiker Bauanlagen errichtet, hatte einen kreisrunden oder vielmehr zumeist 
einen {iolygonen Grundriss, in der Regel den eines Achtecks. ES wurde 
theils flach gedeckt, theils mit einer Kuppel überwölbt. Zu einer bedeu- 
tenderen Eigenthümlichkeit erhob sich das Baptisteritim dadurch, dass 
man dem mittleren Hanptraume einen niedrigeren Umfang zufügtei der Zu 
jenem iu demselben Verhältnisse stand, wie die Seitenschiffc der Basilika 
zum Mittelschitfe. Diese Bauanlage ward in der Kunst des byzantinischen 
Reiches, vornehmlich im Zeitalter des Kaisers Justinian, mit grossartigerem 
Sinne aufgefasst und zu selbständigen grossen Kirchenbautcn verwandt, 
theils so, dass man den polygonen Grundriss beibehielt, theils so, dass 
man ihn durch Anfügung andrer Theile wiederum in der Art der Basili- 
keu verlängerte. Bei solchen Unternehmungen gab es ein neues architek- 
tonisches Problem zu lösen, nämlich über Pfeilern und Bögen eine Kuppel 
emporzuwölben. Die Byzantiner lösten die Aufgabe auf grossartige Weise, 
wie namentlich aus der mächtigen Kuppel der Sophienkirche zu Constan- 
tinopel erhellt. Sie beguügten sich aber nicht mit einer Wölbung solcher 
Art; sie lehnten an die Bögen, welche die Hauptkuppe] trugen, noch auf 
mannigfache Weise Halbkuppeln, 'l'onuengewölbe u. dgl. an, was in mari- 
ehen Fällen eine seltsam complicirte Ueberxrölbung der Räume zur Folge 
hatte. Dabei füllten sie den Raum unter jenen Schwibbögen zum "Fheil 
auf nicht rninderqeigenthümliche Weise mit Säulenarkaden aus. Eins der 
merkwürdigsten (Jebäudc dieser Art ist in Italien die völlig byzantinische 
Kirche  Vitale zdRavenna, aus dem Zeitalter des Kaisers Justinian. 
Die Ansieht N0.  giebt einen Einblick in das Innere (lerselben, der frei- 
lich die Censtruction des Baues nicht vollständig vergegenwäi-tigt, da, es 
übewu Schwierig m, von einem runden oder polygonischen Raume eine 
innere Ansieht zu entwerfen. Es ist übrigens zu bemerken, dass der eigent- 
lich byzantinische Baustyl eine höhere, mehr organische Durchhildung des 
architektonischen Systemes nicht erreicht, auch nicht erstrebt hat. 
Die byzantinische Weise des Kuppelbitues vereinigte sich später, im 
Zeitalter des romanischen Styles, mit dem Basilikenbau des Oceidents, 
indem man, besonders bei den gewölbten Basiliken, über den grosscn Bd- 
gen in der Durehschneidung von Querschill und Langschid eine Kuppel 
errichtete, um hiedurch dem Raume des Chores eine grössere Würde zu 
geben. Im gothischen Baustyle unterliess man fast überall die Anwendung 
der Kuppeln.  In der modernen Kunst erscheinen aufs Neue Kuppeln 
über der Durchschneidung von Quer- und Langschitf, so in besonders 
grossartiger Weise in der Peterskirche zu Rom. Auch überdeckte man 
wohl die Räume durch Reihen bogengetragener Kuppeln.  lüinige der 
schönsten Kirchen-Plntvrürfe desjenigen Architekten, der der grösste des 
ganzen modernen Zeitalters ist, unsers unvergesslichen Schinkel, beruhen 
auf dem Princip des Baptisteriums und des Kuppelbaues; mit der Absicht, 
die Gemeinde in gemessener Nähe um die Kanzel des Predigcrs zu schna- 
ren, vereinigt sich hier sehr glücklich eine erhabene Freiheit des Raumes 
und eine gesetzlich edle Durchbildung der Formen.
	        
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