Volltext: Kleine Schriften über neuere Kunst und deren Angelegenheiten (Bd. 3)

Ueber 
Systeme 
die 
des 
Kirchenbaues. 
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gothische Styl. Der Ursprung der gothischen Form ist, wie es scheint, im 
Orient zu suchen. Ich meine damit jenen gebrochenen Bogen, den man 
mit dem Namen des Spitzbogens zu bezeichnen pflegt, und der, soviel wir 
heutiges Tages zu urtheilen vermögen, zuerst in der arabischen Architektur 
eine ausgedehnter-e Anwendung gefunden hat. In Sicilien, das Jahrhun- 
derte lang unter arabischer Herrschaft stand, wurde der Spitzbogen zuerst 
mit den Formen der einfachen Basilika in Verbindung gebracht, indem 
man ihn über den Säulenstellungen des Schiffes anwandte. Dann entschied 
sich, bei allen occidentalisch europäischen Völkern, der Geschmack der 
Zeit dafür, den Spitzbogen auch bei der gewölbten Basilika einzuführen 
und die Bogenwölbungen nach dieser Form zu bilden; man sah sich dabei 
zugleich genöthigt, auch die übrigen architektonischen Formen harmonisch 
mit seiner Erscheinung umzubilden, so dass sich, eine Reihe von Mittel- 
stufen hindurch. eine wesentlich neue Formenweise ausprägen musste. Es 
bilden indess alle diejenigen Erscheinungen, die mit der Aufnahme des 
Spitzbogens zunächst hervortreten mussten, nur die eine Seite der Eigen- 
thümlichkeiten, welche den gothischen Baustyl auszeichnen; in ihnen be- 
ruht nur seine temporäre, seine historisch vorübergehende Bedeutung. Es 
ist noch eine zweite Seite unter seinen Eigenthümlichkeiten ins Auge zu 
fassen, die, ob auch aufs lnuigste mit jener verbunden, dennoch gesondert 
betrachtet werden kann. und in der seine eigentlich ästhetische Bedeutung 
beruht; sie ist es, die ihm das Gepräge der höchsten Vollendung, welche 
bis jetzt an den architektonischen Werken der Menschen hervorgetreten 
ist, giebt. Es sind ebenfalls gewölbte Basiliken, wie ich sie vorhin flüch- 
tig charakterisirt habe, die zur ausgebildeten Entwickelung des gothischen 
Baustyles Anlass gaben; es sind die allgemeinen Gesetze der architektoni- 
scheu Anlage, wie sie bei den gewölbten Basiliken des romanischen Bau- 
styles erscheinen. Bei diesen aber bildeten die starre Masse des Pfeilers, 
die Starre Masse der Wand noch immer die Grundlage der organisch be- 
lßbtßrell FOTIIIBII, die sich darüber nur eben hinzogen; auch Bögen und 
Gewölbe waren dort noch in ähnlicher Massenhaftigkeit, somit in ähn- 
licher Schwere der Hauptformen, gebildet. Jetzt löste sich dies Alles in 
ein durchaus gegliedertes, durchaus bewegtes Leben auf. Die Pfeiler ge- 
wannen aufs Neue eine mehr säulenhafte Gestalt, und zugleich schwangen 
sich, ringsum aus der Aussentläche ihres Kernes, leichte Halbsäulchen und 
Röhrenbündel empor, dass die Masse des Pfcilers wie die Garbe eines 
lebendig bewegten Springquells aus dem Boden aufstieg. In den Bögen, 
welche (llC Pfeiler verbanden, neigte sich diese Springflut der Formen im 
rhythmischen Spiele, und doch in sichrer Beschlossenheit, gegeneinander, 
an den Oberwänden des Mittelschiffes stieg sie in ungehemmter Kraft em- 
por, an allen Linien des Gewölbes strahlte sie hinüber und herüber. Zu- 
gleich verschwand, was noch von lastender Form an den Oberwänden des 
Schiffes übrig war, dadurch gänzlich, dass diese sich zu weiten Fenstern 
"von einander dehnten. während doch ein elastisch gespanntes Sprossenwerlh 
in ähnlich flüssigen Formen gebildet, allen Eindruck eines leeren Raumes 
authob. Die gcsammte innere Architektur war zum Ausdruck von Kraft 
und Bewegung geworden; sie zog die Sinne und das Gemüth des Be- 
schauers unwillkürlich aufwärts, und doch war Alles von jenem klaren 
Ebemnaassc erfüllt, welches mit der Bewegung zugleich die erhabenstg 
Ruhe, mit der Kraft zugleich die edelste Majestät verband. Das Gebäude, 
das die versammelte Gemeinde tumgah, WM Ü" llnmittßlbälrc Ausdruck
	        
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