Ueber
Systeme
die
des
Kirchenbaues.
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gothische Styl. Der Ursprung der gothischen Form ist, wie es scheint, im
Orient zu suchen. Ich meine damit jenen gebrochenen Bogen, den man
mit dem Namen des Spitzbogens zu bezeichnen pflegt, und der, soviel wir
heutiges Tages zu urtheilen vermögen, zuerst in der arabischen Architektur
eine ausgedehnter-e Anwendung gefunden hat. In Sicilien, das Jahrhun-
derte lang unter arabischer Herrschaft stand, wurde der Spitzbogen zuerst
mit den Formen der einfachen Basilika in Verbindung gebracht, indem
man ihn über den Säulenstellungen des Schiffes anwandte. Dann entschied
sich, bei allen occidentalisch europäischen Völkern, der Geschmack der
Zeit dafür, den Spitzbogen auch bei der gewölbten Basilika einzuführen
und die Bogenwölbungen nach dieser Form zu bilden; man sah sich dabei
zugleich genöthigt, auch die übrigen architektonischen Formen harmonisch
mit seiner Erscheinung umzubilden, so dass sich, eine Reihe von Mittel-
stufen hindurch. eine wesentlich neue Formenweise ausprägen musste. Es
bilden indess alle diejenigen Erscheinungen, die mit der Aufnahme des
Spitzbogens zunächst hervortreten mussten, nur die eine Seite der Eigen-
thümlichkeiten, welche den gothischen Baustyl auszeichnen; in ihnen be-
ruht nur seine temporäre, seine historisch vorübergehende Bedeutung. Es
ist noch eine zweite Seite unter seinen Eigenthümlichkeiten ins Auge zu
fassen, die, ob auch aufs lnuigste mit jener verbunden, dennoch gesondert
betrachtet werden kann. und in der seine eigentlich ästhetische Bedeutung
beruht; sie ist es, die ihm das Gepräge der höchsten Vollendung, welche
bis jetzt an den architektonischen Werken der Menschen hervorgetreten
ist, giebt. Es sind ebenfalls gewölbte Basiliken, wie ich sie vorhin flüch-
tig charakterisirt habe, die zur ausgebildeten Entwickelung des gothischen
Baustyles Anlass gaben; es sind die allgemeinen Gesetze der architektoni-
scheu Anlage, wie sie bei den gewölbten Basiliken des romanischen Bau-
styles erscheinen. Bei diesen aber bildeten die starre Masse des Pfeilers,
die Starre Masse der Wand noch immer die Grundlage der organisch be-
lßbtßrell FOTIIIBII, die sich darüber nur eben hinzogen; auch Bögen und
Gewölbe waren dort noch in ähnlicher Massenhaftigkeit, somit in ähn-
licher Schwere der Hauptformen, gebildet. Jetzt löste sich dies Alles in
ein durchaus gegliedertes, durchaus bewegtes Leben auf. Die Pfeiler ge-
wannen aufs Neue eine mehr säulenhafte Gestalt, und zugleich schwangen
sich, ringsum aus der Aussentläche ihres Kernes, leichte Halbsäulchen und
Röhrenbündel empor, dass die Masse des Pfcilers wie die Garbe eines
lebendig bewegten Springquells aus dem Boden aufstieg. In den Bögen,
welche (llC Pfeiler verbanden, neigte sich diese Springflut der Formen im
rhythmischen Spiele, und doch in sichrer Beschlossenheit, gegeneinander,
an den Oberwänden des Mittelschiffes stieg sie in ungehemmter Kraft em-
por, an allen Linien des Gewölbes strahlte sie hinüber und herüber. Zu-
gleich verschwand, was noch von lastender Form an den Oberwänden des
Schiffes übrig war, dadurch gänzlich, dass diese sich zu weiten Fenstern
"von einander dehnten. während doch ein elastisch gespanntes Sprossenwerlh
in ähnlich flüssigen Formen gebildet, allen Eindruck eines leeren Raumes
authob. Die gcsammte innere Architektur war zum Ausdruck von Kraft
und Bewegung geworden; sie zog die Sinne und das Gemüth des Be-
schauers unwillkürlich aufwärts, und doch war Alles von jenem klaren
Ebemnaassc erfüllt, welches mit der Bewegung zugleich die erhabenstg
Ruhe, mit der Kraft zugleich die edelste Majestät verband. Das Gebäude,
das die versammelte Gemeinde tumgah, WM Ü" llnmittßlbälrc Ausdruck