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Us-ber
die
Systßme
des
Kircl
lenbaues.
sind, von denen uns die Geschichte der Architektur Kunde giebt, so lassen
sie sich dennoch, nach den vorzüglichst charakteristischen Theilen der Ar-
chitektur, in zwei Hauptgattungen unterscheiden. Ich bezeichne die eine
Gattung als den einfachen Säulen bau, die andre als den Bogenbau.
Mit der Erscheinung der Säule beginnt zuerst das selbständige Leben der
Architektur. Mit ihr tritt an die Stelle der starren, todten Masse ein or-
ganisches, individuell ausgebildetes, individuell gesondertes Leben. Frei
und kühn, wie der Gedanke des Menschen, strahlt die Säule aus dem
Boden empor, in rhythmisch gegliedertem Spiele strebt die Säulenreihe
dem Druck des Gcbälkes entgegen. Aber das Gebälk ist wiederum noch
eine starre. bewegungslose Masse, wie anmuthig sie auch in verschiedenen
Architektursystemen ausgeschmückt sein möge. Das Gebälk schliesst die
Bewegung der Säule ab und stellt dem emporstrebenrlen Sinn eine feste
Schranke entgegen. 'l'ritt aber an die Stelle des Gebälkes der Bogen,
so ist diese Schranke hinweggethan; die aufsteigende Bewegung wird nicht
abgebrochen; sie theilt sich, da sie freilich nicht in's Unendliche gehen
darf, elastisch aus einander und vermählt sich in lebhaftem ÜIIlSCliWlInge
mit der Bewegung, die von einem nächsten Punkte empor-gestiegen ist.
Der Bogen ist das vollendende, das verbindende Princip der Architektur;
er entwickelt sich weiter zum Gewölbe und giebt als solches dem inne-
ren architektonischen Raume lebendigen Zusammenhang, gesetzliche Orga-
nisation und Würdevoll freie Erhebung. Der einfache Säulenbau kehrt
bei allen architektonischen Systemen der alten Welt wieder; so edel er
im Einzelnen, so überaus schön er bei den Griechen ausgebildet erscheint,
so bezeichnet er dennoch überall die Schranke der geistigen Erhebung,
welche den Völkern der alten Welt gesetzt war. Zwar finden sich im
Einzelnen schon bei den alten Völkern Beispiele der Anwendung von
Bogen- und Gewölbformen; so in denjenigen altindischen Grottentempeln,
welche für den Cultus der Buddhisten ausgeführt waren; so bei den Etrus-
kern und vornehmlich bei den Römern. Aber es fehlt hier dieser Form
durchweg noch an aller selbständigen Ausbildung; durchweg erscheint hier
das Gesetz des eigentlichen Säulenbaues, der die Bogenformen zumeist
umkleidet, noch als das vorherrschende. Man kann diese Erscheinungen
höchstens als die Vordeutungen einer spätern Entwickelung betrachten.
Die wirkliche Ausbildung des Bogen- und Gewölbebaues gehört dem
christlichen Zeitalter an und ist nicht minder bezeichnend für jene höhere
Erhebung des Geistes, durch welche diese Zeit sich von der alten unter-
scheidet.
Wir wenden uns nunmehr zur Betrachtung der Hauptformen des christ-
lichen Kirchenbaues, wie dieselben sich in historischer Aufeinanderfolge
geltend gemacht haben. Der Gegenstand ist höchst atlsgedehnt; ich be-
schränke mich demnach auf die vorzüglichst wichtigen und entscheidenden
Formen. Auch wird es genügen, wenn ich hier nur auf die künstlerische
Anordnung des Innern der Kirchengebäude eingehe. Denn da das Ge-
bäude zur Versammlung der Gemeinde bestimmt ist, so muss natürlich das
Innere als das zunächst Wesentliche erscheinen; die Formen des Aeussern
müssen sich durch die im Innern befolgten architektonischen Gesetze er'-
geben, sie müssen, mehr oder weniger, das äussere Produkt, das durch
jene erzeugt ist, ausmachen. So ist es in der That, wenigstens überall,
wo man eine höhere Durchbildung der Systeme wahrnimmt, der Fall
gewesen.