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Berichtß,
Kritikex
Erörturnngau.
Wendung auf die verschiedenen Weist-n bildlicher Darstellung zu erfreuen
beginnt. Denn indem in ihr die Originalität des Künstlers, seine frische,
schaffende Kraft in voller Unmittelbarkeit hervortritt, so wird sie ohne
Zweifel ein wohlthätiges Gegengewicht gegen den eleganten, aber häufig
nur zu wenig gehaltlosen Tand wohlfeiler Stahlstiche und. Lithographieen
herstellen, mit dem in neuerer Zeit das genusssüchtige Auge der Halb-
oder gar nicht Gebildeten genährt worden ist. Auch ist keine andre Kunst
geeignet, die Eigenthümlichkeiten des Zeichners in gleich charakteristi-
scher Weise wiederzugeben, als eben die Radirung; selbst nicht die Li-
thographie, obgleich bei deren Anwendung der Zeichner, der eigenhändig
die lithographische Kreide führt, noch weniger beschränkt scheinen dürfte.
Immer wird die Radirung das voraus haben, dass in ihr ein jeder einzelne
Strich sich als das unmittelbare Ergebniss des Gefühles kund geben muss.
dass man in ihr das künstlerische Schaffen wie im Ganzen so in den ein-
zelnen 'l'heilen bis in deren feinste Nuancen hinab, und zwar überall mit
vollkommenster Bestimmtheit, nachempfinden kann.
Wenn ich nicht irre. so haben die von Reinick herausgegebenen
"Lieder eines Malers mit Randzeichnungen seiner Freunde" ein vorzüg-
liches Verdienst an der neueren Verbreitung dieser schönen Kunst. Wohl
die Meisten, die uns bis dahin radirte Blätter geliefert, waren entweder
ausschliesslich Kupferstecher oder doch durch längere Uebung mit den
Bedingnissen des Kupferstiches vertraut; die Uebrigen, besonders die Ma-
ler, mochten glauben. dass das Radiren allerlei unbequeme Vorstudien
erfordere und, dass dadurch ihrem sonstigen künstlerischen Treiben Ab-
bruch geschehe. Durch Reiniclfs Liederbnch sah man plötzlich, dass
es einer ganzen Reihe von Malern gelungen war, die Radirnadel auf er-
freuliche Weise zu führen, und dass, wenn auch nicht Alles, weder an
eigentlich künstlerischer Bedeutung noch an technischer Ausführung, glei-
chen Werth hatte, so doch bei Weitem das Meiste als wohlgelungen be-
zeichnet werden musste. So ist in der kurzen Frist, seit jenes Werk
erschienen, manch ein treftliches Blatt gearbeitet, manch ein grösseres
Werk begonnen, wodurch uns die entschiedensten künstlerischen Indivi-
dualitäten in charakteristischer Weise gegenübertreten und den Kunst-
freunden mannigfach willkommener und belehrender Genuss dargeboten
wird. Gewiss wird man immer mehr sich dahin verständigen, dass, wenn
auch das Radiren und Aetzen seine besondre Uebung erfordert, diese doch
eben nicht allzu mühsam ist und durch die Freude, die der Künstler
seinen Freunden und unbedenklich auch sich selbst bereitet, genügend
aufgehoben wird.
Unter den neueren Werken solcher Art dürfte das in der Ueberschrift
genannte als eins der interessantesten zu bezeichnen sein. Es hat den
Zweck, so viel als möglich von allen namhaften Künstlern, deren sich
Deutschland heutiges Tages erfreut, eigenthümliche und eigenhändig ge-
arbeitete Blätter zu liefern, so dass dadurch, wenn das Ganze zu einiger
Vollständigkeit gelangt sein wird, dem Beschauer die anziehendste Ueber-
sicht eröffnet sein muss. Der Umschlag der vorliegenden Lieferungen
macht eine bedeutende Reihe von Künstlern namhaft, von denen zunächst
Beiträge zu erwarten sind; zwei Lieferungen, jede zu 3 Blättern, sind bis
jetzt erschienen, die schon gegenwärtig zu interessanter Vergleichung An-
lass geben.