Volltext: Kleine Schriften über neuere Kunst und deren Angelegenheiten (Bd. 3)

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Berichte, 
Kritiken, 
Erörterungen 
nur der Anschauung kleiner Blüthenfäden bedarf, um das Geschlecht des 
mächtigsten Baumes zu erkennen, so wird sich auch in dem Kunstwerke 
der kleinsten Art und hieinit übereinstimmenden Inhalts die Autfassungs- 
und Behandlungsweise ungleich grossartigerer Unternehmungen, innerhalb 
deren Bereiches dasselbe entstanden ist, abspiegeln müssen. Aehnliche, 
aber ungleich mehr in die Augen springende Verhältnisse werden natür- 
lich da statt finden, wo aus mehr gleichartigen Kreisen einzelne Werke 
in die Sammlung übergegangen sind. 
In der That giebt die in Rede stehende Gemäldesammlung eine Ueber- 
sieht von den Leistungen der deutschen Kunst unsrer Zeit, welche  
soweit dies überhaupt bei Staffelei-Gemälden kleinerer und mittlerer Di- 
mension möglich ist  die verschiedenen Richtungen, in denen dieselbe 
auseinander geht, und in ihnen die Elemente unsrer heutigen Sinnesweise 
anschaulich erkennen lässt. Aber sie gehört nicht lediglich den letzten 
Jahren an. Mit Interesse hat der Besitzer die ganze Periode des neusten 
Aufschwunges unsrer Kunst verfolgt, so dass wir hier zugleich neben dem 
Werdenden das Gewordene, neben dem Gepräge, welches die Gegenwart 
gewonnen hat, zugleich Beispiele der Vorstufen zu dessen eigenthümlicher 
Ausbildung vor uns sehen. So tritt in dieser Rücksicht denn auch jener 
Theil der Sammlung, welcher die Werke älterer Meister umfasst, zu ihr 
in ein näheres Verhältniss. 
Diese letzteren Werke bestehen fast ausschliesslieh aus Gemälden 
niederländischer Künstler des siebzehnten Jahrhunderts; ihnen reihen sich 
einige wenige von ihnen abhängige Arbeiten deutscher Künstler an. Ihre 
kunstgeschichtliche Stellung deutet mehr auf die Richtung der heutigen 
Gegenwart, als auf die der früheren Vergangenheit hin. Die Blüthen- 
periode der altdeutschen Kunst, die der grossen italienischen Meister, wenn 
gleich sie ihnen der Zeit nach näher steht als die Gegenwart, liegt doch 
wie ein abgeschlossenes wundersames Reich hinter ihnen: die kirchliche 
Reformation des sechzehnten Jahrhunderts bildet die grosse Kluft, welche 
die alte und die neue Zeit, die alte und die neue Kunst von einander 
sondert. Die Reformation löste, wie den Gedanken des Menschen über- 
haupt, so auch die Kunst aus den Fesseln der Kirche; sie gab der Kunst 
die Freiheit, alle Gegenstände des Lebens zu durchdringen, jedes Einzelne 
der irdischen Existenz zu einem bedeutungsvollen Ganzen zu gestalten. 
Ein solches Beginnen der Kunst erblicken wirin den niederländischen 
Bildern des siebzehnten Jahrhunderts; die älteren Bilder der Sammlung, 
von der hier die Rede ist,  Landschaften, Genrebilder, Stillleben, ge- 
statten uns, einen Rückblick auf dies erste Beginnen der ihres frühern 
Dienstes entledigten Kunst zu werfen. 
Freilich sehen wir die Kunst, von dieser Zeit ab bis zum heutigen 
Tage, nicht in einer reinen, stetigen Entwickelung begriffen. Reactionen 
der einen und der andern Art fanden statt, zum Theil gewiss dadurch 
veranlasst, dass die Kunst, das neuerworbene Element ausbeutend, gar 
manchen der früheren Vortheile aufgegeben hatte. Das achtzehnte Jahr- 
hundert dürfte, auf den ersten Anblick, als eine ähnliche Kluft zwischen 
den genannten Bestrebungen und denen der Gegenwart erscheinen, wie es 
das seehzehnte Jahrhundert in Rücksicht auf die frühere Zeit gewesen war. 
In der That aber ist dies nicht der Fall; nach manchen unbestimmten 
Schritten wurde dasselbe Element auf's Neue aufgenommen, nur ausgefüllt 
von einem neuen Lebensdrange, nur geläutert durch die Gewinnste, welche
	        
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