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Berichte,
Kritiken,
Erörterungen
nur der Anschauung kleiner Blüthenfäden bedarf, um das Geschlecht des
mächtigsten Baumes zu erkennen, so wird sich auch in dem Kunstwerke
der kleinsten Art und hieinit übereinstimmenden Inhalts die Autfassungs-
und Behandlungsweise ungleich grossartigerer Unternehmungen, innerhalb
deren Bereiches dasselbe entstanden ist, abspiegeln müssen. Aehnliche,
aber ungleich mehr in die Augen springende Verhältnisse werden natür-
lich da statt finden, wo aus mehr gleichartigen Kreisen einzelne Werke
in die Sammlung übergegangen sind.
In der That giebt die in Rede stehende Gemäldesammlung eine Ueber-
sieht von den Leistungen der deutschen Kunst unsrer Zeit, welche
soweit dies überhaupt bei Staffelei-Gemälden kleinerer und mittlerer Di-
mension möglich ist die verschiedenen Richtungen, in denen dieselbe
auseinander geht, und in ihnen die Elemente unsrer heutigen Sinnesweise
anschaulich erkennen lässt. Aber sie gehört nicht lediglich den letzten
Jahren an. Mit Interesse hat der Besitzer die ganze Periode des neusten
Aufschwunges unsrer Kunst verfolgt, so dass wir hier zugleich neben dem
Werdenden das Gewordene, neben dem Gepräge, welches die Gegenwart
gewonnen hat, zugleich Beispiele der Vorstufen zu dessen eigenthümlicher
Ausbildung vor uns sehen. So tritt in dieser Rücksicht denn auch jener
Theil der Sammlung, welcher die Werke älterer Meister umfasst, zu ihr
in ein näheres Verhältniss.
Diese letzteren Werke bestehen fast ausschliesslieh aus Gemälden
niederländischer Künstler des siebzehnten Jahrhunderts; ihnen reihen sich
einige wenige von ihnen abhängige Arbeiten deutscher Künstler an. Ihre
kunstgeschichtliche Stellung deutet mehr auf die Richtung der heutigen
Gegenwart, als auf die der früheren Vergangenheit hin. Die Blüthen-
periode der altdeutschen Kunst, die der grossen italienischen Meister, wenn
gleich sie ihnen der Zeit nach näher steht als die Gegenwart, liegt doch
wie ein abgeschlossenes wundersames Reich hinter ihnen: die kirchliche
Reformation des sechzehnten Jahrhunderts bildet die grosse Kluft, welche
die alte und die neue Zeit, die alte und die neue Kunst von einander
sondert. Die Reformation löste, wie den Gedanken des Menschen über-
haupt, so auch die Kunst aus den Fesseln der Kirche; sie gab der Kunst
die Freiheit, alle Gegenstände des Lebens zu durchdringen, jedes Einzelne
der irdischen Existenz zu einem bedeutungsvollen Ganzen zu gestalten.
Ein solches Beginnen der Kunst erblicken wirin den niederländischen
Bildern des siebzehnten Jahrhunderts; die älteren Bilder der Sammlung,
von der hier die Rede ist, Landschaften, Genrebilder, Stillleben, ge-
statten uns, einen Rückblick auf dies erste Beginnen der ihres frühern
Dienstes entledigten Kunst zu werfen.
Freilich sehen wir die Kunst, von dieser Zeit ab bis zum heutigen
Tage, nicht in einer reinen, stetigen Entwickelung begriffen. Reactionen
der einen und der andern Art fanden statt, zum Theil gewiss dadurch
veranlasst, dass die Kunst, das neuerworbene Element ausbeutend, gar
manchen der früheren Vortheile aufgegeben hatte. Das achtzehnte Jahr-
hundert dürfte, auf den ersten Anblick, als eine ähnliche Kluft zwischen
den genannten Bestrebungen und denen der Gegenwart erscheinen, wie es
das seehzehnte Jahrhundert in Rücksicht auf die frühere Zeit gewesen war.
In der That aber ist dies nicht der Fall; nach manchen unbestimmten
Schritten wurde dasselbe Element auf's Neue aufgenommen, nur ausgefüllt
von einem neuen Lebensdrange, nur geläutert durch die Gewinnste, welche