Sculptur.
Berlin.
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der reinen plastischen Schönheit. Es herrscht in jeder einzelnen Gestalt
ebenso, wie in ihrem Zusammenwirken als Ganzes, ein Ebenmaass, eine
Klarheit, eine Harmonie der Linien und Verhältnisse, eine durchgebildete
Gesetzmässigkeit bei aller Freiheit des Einzelnen, mit einem Worte:
eine Vollendung des Styles, wie sie eben nur die Bedingung der auf
ihrem Gipfelpunkte angelangten Kunst ist. Und wenn der Beschauer, bei
dem engen Raume, darin das kolossale Modell aufgestellt war, zunächst
auf das Einzelne, auf die kunstreiche Behandlung der Stoffe, auf die
historische Eigenthümliehkeit der Darstellung, auf die charaktervolle Auf-
fassnng derGestalten verwiesen wurde, so musste doch allmählig die hohe
Würde des Ganzen, die feierliche Bedeutsamkeit seines Inhalts, die lau-
tere Majestät dieser Erscheinungen den überwiegendsten Eindruck hervor-
bringen.
Ein von dem vorigen wesentlich verschiedenes, aber in seiner Art
ebenfalls sehr interessantes Thon-Modell sahen wir im Atelier des Bild-
hauers Hrn. Kiss. Der Gegenstand desselben gehört nicht der Geschichte,
sondern dem Bereiche der Phantasie an und führt, von äusseren Beding-
nissen frei, den Beschauer in die Urzustände menschlicher Existenz zu-
rück. Es ist eine sehr kunstreich componirte Gruppe. Eine Amazone.
nur um die Hüften mit einem leichten Gewande geschürzt und den Kopf
mit der bekannten phrygischen Mütze bedeckt, sitzt auf einem kräftigen
Rosse, dem eben ein Tiger entgegengesprungen ist, indem er sich an dessen
Brust, die er mit wüthendem Bisse zerfleischt, angeklammert hält. Das
Pferd, scheu und heftig emporgebeugt, strebt fruchtlos, sich seines Feindes
zu erwehren; die Amazone dagegen, in leicht gekrümmter Stellung, ist
so eben im Begriff, mit der erhobenen Lanze den Tiger zu durchbohren.
Das ganze Werk ist voll des höchsten, aufgeregtesten Lebens; ebenso ist
die Charakteristik der drei Figuren in vortreftlicher Weise durchgeführt.
Der Adel. die heftige Anstrengung, der Schmerz und Grimm in dem Pferde
steht im fühlbarsten Contrast gegen das Wilde, Heimtückische, Katzen-
artige in der Gestalt des Tigers, dessen Obergewalt, trotz seiner klei-
neren Dimension, trefflich hervorgehoben ist. Gegen beide aber bil-
det die leichte Behendigkeit der Amazone, deren zierliche Formen
zugleich eine kräftige Entwickelung und die volle Anspannung des M0-
mentes zeigen, einen noch interessanteren Gegensatz, und in ihr vornehm-
lich concentrirt sich das Interesse des Beschauers. Wildes Naturleben,
Kraft und Anmuth vereinigen sich in dieser Arbeit auf die ansprechendste
Weise. Bei der grossen Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit der Bewegun-
gen herrscht indess auch hier ein schönes plastisches Ebenmaass, und die
Linien bewegen sich, je nach den verschiedenen Gesichtspunkten, stets
puf eine eigenthümlich harmonische Weise. Die Ausführung des in Rede
stehenden Modells ist in verhältnissmässig kleinen Dimensionen gehalten;
der Künstler hat dasselbe nur als Vorstudium eines grösseren gearbeitet.
welches dreimal so gross das Ganze gegen 12 Fuss hoch und 16 Fuss
breit (die Amazone in einer Höhe von 9 Fuss, das Pferd in den Dimen-
sionen der Sßhlütefsehen Reiterstatne des grossen Kurfürsten) ausge-
führt werden Soll. Gewiss dürfen wir, bei den so sehr anerkennungswür-
digen Vorzügen, welche bereits das vorläutige Modell entwickelt, hier
wiederum einer der anziehßndsten Leistungen der Berliner Plastik em-
Kugler,
Kleine Schriften