232
Ueber die gegenwärtigen
Verhältnisse
Leben.
Kunst zum
der
wir haben ja kaum eine Kirche, welche dem Verlangen der Gegenwart
entsprechend wäre, Gebäude wohl, in denen möglichst viel Menschen
zum Anhören einer beliebigen Predigt Platz finden, keins aber, welches
unser Gernüth von selber, durch seine unmittelbare Umgebung, zu den
höchsten Gedanken emporheben könnte. Und wir haben auch keine reli-
giöse Malerei. Zwar giebt es Manche, die da behaupten, das Gebiet der
christlich religiösen Malerei sei in den früheren Stadien bereits durchlau-
fen, und was einmal vorüber, dürfe nicht wieder nachgeahmt werden. Aber
ist unser Glaube denn so kurz, dass er nur von den Seiten, welche die
Vorzeit zunächst erfasste, immer und immer wieder'dargestellt werden
müsse? Umfasst er nicht die ganze Natur und die ganze Geschichte? Giebt
es denn nicht, wenn ihr jene heiligen Bilder des Schmerzes verschmäht,
eben so gut auch unzählige Bilder der Freude, der Weisheit, der Erfül-
lung, welche der Darstellung harren? Gehen wir doch nur, um ein Bei-
spiel andrer Auffassung zu geben, als es im Mittelalter der Fall war, auf
jene ältest-christlichen Darstellungen zurück, in welchen, mit wie mangel-
hafter und verdorbener Form auch, gleichwohl eine Fülle der anmuth-
vollsten und sinnreichsten Situationen vorgebildet war. Und sollten uns
diese nicht möglicher Weise zu ähnlichen Auffassungsweisen hinleiten
dürfen?
Die Wiedereinführung der Kunst in die Kirche und in das öffentliche
Leben, d. h. ihre monumentale Bestimmung, dies ist es, wovon vornehm-
lich die tiefere Begründung einer neuen Kunstblüthe abhängen wird,
ebenso wie ihre grössere Verbreitung durch das nähere Verhältniss zum
Handwerk bedingt ist. Es fehlt nicht an bedeutenden künstlerischen Kräf-
ten, es fehlt nicht an mannigfachem Wohlgefallen an der Kunst, es fehlt
auch nicht an einzelnen, sehr beachtenswerthen Zeugnissen für das Vor-
handensein jenes tieferen Sinnes für die Kunst. Aber erst dann, wenn
derselbe weiter im Volke um sich gegriffen hat, dürfen wir einem wahr-
haft grossartigen Aufschwunge entgegen sehen, denn das Einzelne kann
immer keine Gewähr für die Zukunft geben. Vielleicht jedoch ermuntern
jene einzelnen Beispiele zur weiteren Nachfolge; vielleicht lassen es sich
die Kunstvereine angelegen sein, statt der zweifelhaften Erfolge, die sie
bisher erreicht, einen grösseren Ernst hervorzurufen und in Verbindung
mit andern Kreisen des Lebens selbstthätig und zum einzeln bestimmten
Zwecke in die Kunst einzugreifen; vielleicht auch ist das Bedürfniss nach
einer dem ößentlichen Leben gewidmeten Kunst schon unbewusst vorhan-
den, und wartet nur eines ähnlich kräftigen Anstosses, wie ihn die Kunst-
vereine_ bereits nach einer andern Richtung hin, so viel erfolgreicher als
man vermuthen durfte, gegeben haben.
Dies wird uns die Folgezeit lehren. Inzwischen schreitet die Gegen-
wart vorwärts, aber unsre Hoffnungen sind in ihrem Geleit.