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Uebar die gegenwärtigen Verhältnisse der Kunst
zum Leben.
Gegenwart herantreten und dieses sodann in liebevoller Umfassung wieder
zur Einfalt, Natürlichkeit und zu dem Ebenmaasse zwischen Geist und
Gestalt zurückleiten soll. Und hat es die Philosophie an sich mit der
körperlosen Region des Geistes zu thun, so steht sie doch, wenn sie nicht
ein leeres Trugbild ist, wiederum in nächster Beziehung zum Leben, und
ihre Bestimmung ist eben die Läuterung und Verklärung des Lebens. Sie
kann also, in dieser vorausgesetzten thätigen Rückwirkung auf das Leben,
auch auf die Kunst nicht anders als kräftigend einwirken und muss viel-
mehr dazu dienen, die Bedeutsamkeit des inneren Gehaltes derselben klarer
hervorzuheben, tiefer zu begründen. Auch die Mechanik, die ihren Werk-
zeugen nnd Produkten freilich nicht immer eine künstlerische Gestaltung
verstattet, steht ebenso wenig im Widerspruche zur Kunst; sie muss im
Gegentheil dazu behültlich sein, die technischen Mittel, deren die Kunst
bedarf, zu vervollkommnen, wie man ihr in der That bereits in den unter-
geordneten Kreisen der Kunst so bedeutende Hülfsmittel und Fördernisse
verdankt. Beide bedingen nicht das Vorhandensein der Kunst, aber beide
sind ebenso wenig im Stande, alle Kräfte des Geistes an sich zu ziehen.
Wenn indess die künstlerische 'l"hätigkeit der Gegenwart den vergan-
genen grossen Kunstepochen für jetzt weder an Breite noch an Tiefe
gleichzustellen ist, so darf gleichwohl der WVunsch, einem solchen Ziele
nachzukommen, eine gute Stätte finden. Wo die Anzeichen eines so starken
Lebensdrauges, wie in der gegenwärtigen Kunst, hervorgetreten sind, da
ist es Pflicht, auf das Wesentlichste und Bedeutendste für dessen Fort-
schritt und Vollendung aufmerksam zu machen. Betrachten wir zunächst
das Verhältniss, in welchem die Kunst zu den gemeinen Bedürfnissen des
Lebens steht.
Wir haben es keinesweges zu läugnen, dass sich im Allgemeinen ein
guter Geschmack zu verbreiten beginnt, und dass die Musterbilder der
Vor-zeit häufig mit Geschick und kunstverständiger Auswahl benutzt werden.
Doch macht das bunte Spiel dieser Formen auf den Beschauer noch nicht
jenen edleren, wohlthuenden Eindruck, welchen z. B. durchweg die Ge-
räthe des klassischen Alterthums hervorbringen. Es fehlt dabei vor Allem
eine sichere Richtung, das höhere, bestimmende Gesetz eines gemeingül-
tigen Styles, welcher der Ausdruck eines gemeinsam bewussten Formen-
sinnes wäre und diesen vor den wankelmüthigen Einflüssen der Mode
schützen könnte. Dieser Uebelstaud scheint zunächst besonders in der
Trennung des Handwerkes von der Kunst zu liegen, welche in der
neueren Zeit, wie in den früheren Epochen nie, hervorgetreten ist. Die
Kunst hat sich von dem Boden losgerissen, welcher ihr früher einen
sicheren Anhaltspunkt gewährte, sie hat sich in eine gesonderte Region
emporgehoben, das nah verwandtschaftliche Verhältniss zu dem Gebiete
des Handwerks verschmähend, von dem sie ebenso sehr, wie sie ihm
Schwung und Belebung zuertheilte, gestützt und getragen ward. Diese
Trennung schreibt sich, wenn ich nicht sehr irre, vornehmlich aus jener
eklektischen Periode des siebzehnten Jahrhunderts her, in welcher der
Grundsatz aufgestellt und, so gut es anging, ins Leben eingeführt wurde:
dass man nach Schulregeln ein Genie bilden, nach Schulregeln ein geniales
Werk erzeugen könne. Von dieser Zeit an glaubte man, falls man nur