Berichte, Kritiken,
Erörterungen
man fast von hinten sieht, hat Benno mit der Rechten ins Gewand unter
dem Kinn gefasst und reisst mit der Linken dessen rechten Fuss vom
Boden; so hält er ihn einen Augenblick schwebend über dem Abgrund,
während Benno, das Gesicht angstvoll verzerrend, seine linke Hand um
Golds rechte klammert und mit seiner rechten in die leere Luft greift.
Zur Seite tritt Einer in Pilgerhülle aus dem Walde; es ist Otto's Geist,
Golds Vater. Zu seiner Strafe muss er Augenzeuge von der Verwerfen-
heit dessen sein, den er in verbotener Liebe gezeugt hat. Ich hätte
diesem Geist, statt der bepanzerten Beine, ein längeres Pilgerkleid ge-
wünscht, damit er unmittelbarer, ich möchte sagen, mehr wie aus dem
Boden gewachsen erschiene.
12. Siegfried findet die Genovefa wieder. Dies Blatt zeigt uns noch-
mals die Höhle der Genovefa. aber von einer andern Seite. Das Crncitix
ist über der Quelle zwischen der Tanne und Eiche aufgestellt; zwei, auf
den Seiten deSselben gepflanzte und oben zusammen gebundene Zwe
bilden eine A" Nische. Von der befiedcrten Waldgenossenschaft l
vorigen Blattes sehen wir auf diesem nichts mehr; dafür haben sich
einige Tauben als Mitbewohner der Höhle eingefunden. Vorn steht Ge-
IlÜVCfa, in Siegfrieds Mantel gehüllt, den er ihr vorhin zuwarf, um ihre
Blösse zu bedecken; sie neigt ihr Haupt zu Siegfried nieder, der sie er-
kannt hat und unter der Riesenlast ihres Unglücks und seiner Schuld
besinnungslos zu Boden gestürzt ist; er liegt platt auf dem Boden da.
Der rechte WVinkel, welcher auf diese Weise durch die beiden Haupt-
figuren des Blattes gebildet wird, möchte von manchem Kritiker, dessen
Auge stets nach wohlgeordneten Gruppen verlangt, getadelt werden; aber
ich glaube, es giebt Momente im Leben, wo der Schmerz auch die wohl-
geordnctsten Gruppen auseinander zu reissen im Stande ist. Siegfried hat
das Haupt bereits erhoben und die Hände vor sich auf dem Boden gefal-
tet; man sieht, dass es ihm Mühe kostet, die verlernen Gedanken wieder
zusammen zu suchen. Neben Genovefa steht die Hirschkuh und sieht
sorglich nach dem Walde, aus dem so eben der kleine Schmerzenrcich
mit seinen beiden Kaninchen hervoreilt. Er trägt Kräuter in seinem Röck-
chen, welche er zur Speise für die Mutter gesammelt hat.
13. Siegfried führt die wiedergefundene Genovefa in seine Burg heim.
Ein Blatt voll Jubel und Freude und Sonnenschein. Und doch geht eine
leise Dissonanz hindurch: wir bemerken, wenn wir die Gestalt der Geno-
vefa aufmerksamer betrachten, dass diese laute Lust nicht zu ihren abge-
zehrten Wangen und zu der Art, wie sie sich matt in den Arm des Sieg-
fried hängt, passen will, und dass ihr Lächeln nur der Befriedigung ihres
letzten irdischen iVunsches gilt. Genovefa ist wieder wie andre Frauen
gekleidet; hinter ihr sehen wir die Hirschkuh, die, wenn auch stutzig oh
solchen Gedränges, doch getrost der Herrin nachschreitet. Jäger zu Fuss
und zu Pferde, ihre Freude auf verschiedene Weise äussernd, folgen. Vor
dem neu verbundenen Ehepaar geht Wendelin (den wir bereits im sechsten
Blatt liebgewonncn haben) und trägt Schmerzenreich auf dem Arme, wel-
chem gleichfalls ein anständigeres Kleidchen angezogen ist; mehrere Kinder
langen zu ihm empor; eine anmuthige Gruppe. Jubclnd eilt die Schloss-
bewohuerschaft durch das Thor den Ankommenden entgegen.
14. Golo's Tod. Wir erkennen dieselbe Schlucht, in welcher Golo
die Geuovefa und ihr Kindlein wollte morden lassen; dieselbe, von der es
in jenem traurigen Liede heisst: