Volltext: Kleine Schriften über neuere Kunst und deren Angelegenheiten (Bd. 3)

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Kritiken, Erörtern: 
Berichte, 
im Thun der Einzelnen, ein grossartiges Ganze, welches von den verschic- 
denen Seiten her nach dem Einen Mittelpunkte zusammengezogen wird. 
Betrachten wir nunmehr die einzelnen Gestalten. Der Prophet, impo- 
nirend zwar durch Gestalt und Bewegung, erscheint in den einfachsten 
Gewändern, ohne alle diejenigen Abzeichen, welche auf einen Mächtigen 
oder Vornehmen deuten könnten: die Herrschaft der Grossen ist gestürzt, 
der Trost und die Hoffnung des Volkes kann nur aus dem Volke selbst 
gewonnen werden. Ein Mantel von dunkelbraunrother Farbe ist um seine 
Kniee geschlagen und verräth in dem Zuge der Falten, die von dem rech- 
ten, auf einen Marmorblock gestützten Beine zu dem ausgestreckten linken 
niederiliessen, den Adel und die Majestät seiner Bewegungen. Die gesenkte 
rechte Hand hält eine Schriftrolle; die linke stützt, wie bemerkt, das 
Haupt. Der Scheitel ist kahl und nur von wenigen grauen Locken um- 
spielt; ein grauer Bart, in der Mitte gespalten, senkt sich auf die Brust 
hinab. Das Gesicht ist etwas geneigt: auf der Stirn wühlen alle Gedanken 
des Jammers, alle Schmerzen des bittersten Mitgefühles; man sieht, es ist 
nicht ein einzelner Klageton, der, wie bei den übrigen, sein Gemüth durch- 
klingt; hier jagt eine Empfindung die andre, aufgeregt strömt das Blut 
durch seine Adern, man fühlt es, wie die Pulse der Sehläfe an seinen 
Fingern, die er gegen die Stirn presst, klopfen. Noch ein Moment und er 
wird sich erheben aus diesem gewaltsamen Ringen und wird jenen Klage- 
gesang anstimmen, der durch die Jahrtausende her bis zu unsern Ohren 
erklungen ist: 
„Wie liegt die Stadt so wüste, die voll Volkes war! Sie ist wie eine 
Wittwe. Die eine Fürstin unter den Heiden und eine Königin in den Ländern 
war, muss nun dienen.  Der Herr hat seinen Altar verworfen und sein Hei- 
ligthum verbrannt; er hat die Mauern ihrer Paläste in des Feindes Hände gege- 
ben. Der Herr hat gedacht zu verderben die Mauern der Tochter Zion; er hat 
die Richtschnur darüber gezogen und seine Hand nicht abgewendet, bis er sie 
vertilget; die Zwinger stehen kläglich und die Mauer liegt jämmerlich.  Wie 
ist das Gold so gar verdunkelt und das feine Gold so hässlich worden, und 
liegen die Steine des Heiligthums vornen auf allen Gassen verstreuet!  Die 
Aeltesten der Tochter Zion liegen auf der Erde und sind still, sie werfen Staub 
auf ihre Häupter und haben Säcke angezogen; die Jungfrauen von Jerusalem 
hängen ihre Häupter zur Erde.  Ich habe schier meine Augen ausgeweinet, 
dass mir davon wehe thut; meine Leber ist auf die Erde ausgeschüttet über 
dem Jammer der Tochter meines Volkes, da die Säuglinge und Unmiindigen 
auf den Gassen in der Stadt versehmachteten; da sie zu ihren Müttern spra- 
chen: Wo ist Brod und Wein? da sie auf den Gassen in der Stadt verschmaeh- 
teten, wie die tödtlich verwundeten, und in den Armen ihrer Mütter den Geist 
aufgaben.  Den Erwiirgten durch's Schwert geschah besser, wie denen so da 
Hungers Stllrbßn-  Die Krone unsres Haupts ist abgefallen. 0 wehe, dass wir 
so gesündiget haben!   
Stellen der Klagelieder, wie diese, sind es, denen der Maler die I-laupt- 
motive zu seinem Bilde entnommen hat. 
Unter den Seitengruppen erregt zunächst jene zur Linken, die Mutter 
mit dem jüngeren Mädchen, welche den Tod des Kindes beweinen, unsre 
'l'heilnahme. Wie in dem Kopfe und in der ganzen Gestalt des Prophe- 
ten der Schmerz am lautesten spricht, so ist er in der Mutter ganz stumm 
geworden, ganz in das Innere zurückgedrängt. In sich zusammengcbückt, 
das Haupt im Schoosse verbergend, sitzt sie da; aber diese Stellung ist 
um so ergreifender, als wir auch so noch die edelste, wenn schon etwas 
ilfälahrte Gestalt, die würdigstcn, feierlichst gemessenen Linien der Gewan-
	        
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