656
und
Berichte
Kritiken.
worden, der das Diadem auf ihrem Haupte wohl ziemt; sie sitzt knieend,
einer Königin des Orientes gleich, in entschieden ausgesprochener Stellung
vor dem Kinde, hebt den Schleier mit starker, gerader Bewegung empor
und hält den Johannesknaben ebenso bestimmt umfasst. Auch dieser hat
alles Spieles in seiner Stellung und aller Wechselbezüge vergessen; auCh
er liegt bestimmt auf die Kniee geworfen da, nur zur Anbetung des Ge-
nossen hingewandt. Aeusserlich ist fast völlig derselbe Inhalt in beiden
Compositionen; innerlich sind die wesentlichsten Unterschiede wahrzuneh-
men: in dem einen Bilde Alles noch erst wie von ahnungsvollen
Gefühlen umspielt, in dem andern Alles mit dem Stempel bewusster
Ueberzeugung versehen.
Dann hat die von Ihnen gestochene Composition ein andres Interesse
dadurch, dass sie zu dem Kreise derjenigen Erfindungen Raphaels gehört,
welche vielfach, zur Zeit des Meisters oder bald nach ihm, von verschiedenen
Künstlerhänden wiederholt worden sind. Dies Interesse verknüpft mit
dem Kunstgeschichtlichen das Culturgeschichtliche; man fühlt es deutlich.
wie die Werke, bei denen dies geschah, die Gemüther des Zeitgenossen
angeregt hatten, wie schon von vornherein der Trieb da war, das vorzüg-
lichst Anregende nach Möglichkeit zu einem Gemeingut zu machen. Dop-
pelt interessant wird es in solchem Fall und auch der in Rede stehende
gehört dahin, wenn eine charakteristisch eigenthümliche, vielleicht nicht
blos einer fremden Schule, vielleicht selbst einem fremden Lande angehö-
rige Individualität mit in den Reigen dieser vervielfältigenden Kräfte tritt.
wenn man in solcher Weise die Wirkung des originalen Meisters in wei-
tere und weitere Kreise augenscheinlich hinausgetragen, seine befruchr
tende Schöpferkraft im fernen Boden neue Blüthen hervorbringen, seinen
Geist in der charakteristischen Umbildung seines Werkes neu verkörpert
sieht. Ich glaube, dass solche Verptlanzuugen und Uebertragungen künst-
lerischer Ideen nicht minder interessant und nicht minder folgenreich sind.
als ähnliche Verhältnisse in den Dingen der Natnrhistorie.
Sie hatten in Ihrem Sendschreiben bereits verschiedener andrer Exem-
plare der Composition, welche Sie nach dem Antwerpener Bilde gestochen,
gedacht; Sie werden inzwischen vielleicht bemerkt haben, dass Passavant,
in seinem Werke über Raphael (II, S. 82) deren, ausser dem Original-
Carton, eine doppelt grosse Anzahl aufführt. Den acht von Passavant ge-
nannten Gemälden reiht sich das von Ihnen bekannt gemachte Antwerpener
Bild als ein neuntes an. Es müsste im höchsten Grade belehrend und
unterhaltend sein, wenn es möglich wäre, diese Reihenfolge gleichartiger
Gemälde in einem und demselben Raume zusammenzustellen und sie einer
ausführlichen vergleichenden Kritik zu unterwerfen. Das geht freilich
nicht, und wir müssen uns daher, wollen wir zu einem derartigen Ver-
gleiche gelangen, einstweilen an den Kupferstichen nach diesen Bildern,
so viel wir davon auftreiben können, genügen lassen. Ich habe zu diesem
letzteren Behufe das Thunliche versucht, aber Ihrem Stiche doch nur den
von Longhi und Toschi nach dem bei Brocca in Mailand befindlichen
Bildeund den von Frey nach dem Bilde in der Gallerie Esterhazy zu
Wien zur Seite stellen können. Der Stich von Gio. Folo nach dem
Bilde, WEICIICS aus der Sammlung Lucian Bonapartes in das Haager Mu-
seum übergegangen, ist mir leider unbekannt geblieben; doch konnte ich
dies allenfalls verschmerzen, da Sie von dem letzteren Bilde in Ihrem
Sendschreibcll eine S0 genaue Charakteristik gegeben und namentlich be-