Vierge am:
Langes.
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Sendschreiben
La Vierge aux Langes.
an Herrn Kupferstecher
Nürnberg.
Wagner
Zll
1851,
(D. Kunstblatt
Sie haben, verehrter Herr, in dem an mich gerichteten Sendschreiben,
das in N0. 18 des deutschen Kirnstblattes VOM J- 1359 enthalten War, die
Schätzenswerthesten Bemerkungen über jenes neu entdeckte Gemälde ra-
phaelischer Composition, welches sich im Besitz des Hrn. Wuyts zu
Antwe rpen befindet, und über das Verhältniss dieses Gemäldes zu einigen
andern derjenigen Bilder, welche dieselbe Composition behandeln, gegeben.
Empfangen Sie meinen Dank für die darin enthaltenen Belehrungen und
Zugleich für das Exemplar Ihres nunmehr vollendeten Kupferstiches nach
diesem Gemälde, welches Sie mir so eben freundlichst übersandt haben
llnd über welches Sie eine öffentliche Aeusserung meinerseits verlangen.
Eine Aeusserung der Art ist leicht oder schwer, je nachdem man es nimmt:
doppelt schwer, wenn man, wie ich, das Original nicht kennt. lndess
trägt das neuste Werk Ihres Grabstichels das Gepräge einer solchen Ge-
üiegenheit, spricht aus demselben, von jenem Originale unbedenklich und
in voller Bestimmtheit auf lhr Werk übergetragen, ein so charakteristisch
eigenthümlicher, in der ganzen Arbeit sich gleich bleibender künstlerischer
Geist, dass es mich dennoch reizt, mich gegen Sie auszusprechen, wenn
auch zunächst weniger über Ihre Arbeit, als über das darin so lebendig
Vorgeführte, mir fremde Original.
Denn in mehrfacher Beziehung gewährt schon an sich diese raphae-
lische Composition das lebhafteste Interesse. Es ist eine der liebenswür-
digsten Variationen jenes einfachen, doch auf dem" Grunde des reinsten
Gemüthes und der ächtesten Sittlichkeit beruhenden Gegenstandes, darin
Raphael nimmer ermüdet und dessen seelenvolle Einfalt dem hastigen
Suchen und Nimmeriinden der heutigen Kunstwelt gegenüber so unendlich
beruhigend wirkt. Die jungfräuliche Mutter in der sabbathstillen Land-
Schaft, niederknieend zur Seite des schlafenden Christuskindes, von dem
Sie mit der Rechten den zarten Schleier abhebt. während ihre Linke an
dßm Rücken des Johannesknaben ruht, der, an sie geschmiegt und auf
den Gespielen deutend, zum Beschauer des Bildes hinausblickt, als fordre
er diesen mit auf zur Freude und zur Verehrung, welch ein klarer
Wohllaut ist in diesen Formen und Linien, welch ein edles Maass überall
"l dem Verhältniss derselben, welch eine Zartheit der Motive, welche reine
Stimmung in allen Elementen des geistigen Ausdrucks! Nichts giebt viel-
leicht einen deutlicheren Aufschluss über die durchherrschend feine Em-
pfindung, als wenn wir diese Composition mit einer nächstverwandten
Vflrgleichen. Das kleine raphaelische Bild der Vierge au diademe im Pa-
rlser Museum enthält fast vollständig dieselben Compositions-Elemente;
aber während jenes Werk überall von der zartesten Jungfräulichkeit durch-
hallcht ist, tritt uns hier in jedem Zuge eine markige, fast möchte ich
sagen: heroische Energie entgegen. Der schlafende Christusknabe hat sich
mehr seitwärts geworfen; die über der Stirn ruhende Hand scheint es an-
"ldeuten, dass es drinnen sich schon wie Träume künftiger Gedanken
bewegt. Die jungfräuliche Mutter ist eine königlich erhabene Gestalt ge-