Volltext: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte (Bd. 2)

Geschichte 
der bildenden 
Künste. 
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die mehr germanische Weichheit der gothischen Bauepoche, beide ab- 
hängig vom Architekturgesetz, beide aber auch, am Schluss ihrer Epochen, 
11m 1200 und um 1400, einer mehr naturalistischen Freiheit sich zunei. 
gend 1), deren vollere Einführung. jedoch erst mit der Auflösung der mit- 
telalterlichen Kunst zusammenfällt. Sie sind beide architektonisch bedingt, 
beide durch diesen bedingten, unfreien Zustand der lebendiger-eh, natür- 
lich organischen, individuellen Durchbildung fern gehalten. Der Verfasser 
verkennt diesen Mangel der bildenden Kunst des Mittelalters keinesweges, 
aber er begnügt sich nicht, den wesentlichen Grund desselben in der, 
aller primitiven Bildnerei eigenen Abhängigkeit von den geometrischen 
Gesetzen der Architektur (d. h. in einer, diesen Gesetzen entsprechenden 
Allgemeinheit der Formenbildung) zu erkennen; er glaubt, nicht etwa nur 
diese oder jene Moditication in den alterthümlich gemessenen und be- 
schränkten Stylformen durch das geistige Grundelement der Zeit erklären, 
sondern das letztere unmittelbar als den eigenthümlichen Erzeuger dieser 
ganzen Erscheinung auffassen, jene Stylistik also als eine auch desshalb 
nothwendige, ja die damit verbundene Schwäche der Darstellung nur als 
eine scheinbare, den positiven Mangel an künstlerischer Vollendung als 
tieferen künstlerischen Zwecken dienend darlegen zu müssen. Ich gestehe, 
dass ich hier-den Standpunkt, den der Verfasser eingenommen hat, in 
keiner Weise anerkennen kann. Schon, wenn er sagt, dass in der mittel- 
alterlichen Kunst an Portraits im eigentlichen Sinne des Worts nicht zu 
denken sei, da unbestimmte Charaktere (wie er als solche die mittelalter- 
lichen Persönlichkeiten überhaupt in der Einleitung des Buches bezeichnet) 
auch nur eine unbestimmte Darstellung hätten erhalten können; so ist hier 
ein sehr innerlicher _und doch wohl nur sehr bedingt gültiger Grund her- 
vorgesucht, während das auf der Hand Liegende,  dass eine architek- 
tonisch unfreie, dem Naturalismus noch nicht zugewandte Kunst eben noch 
gar die Mittel zur Portraitdarstellung nicht hat,  zur Erklärung der Sache 
(die sich ganz ebenso auch in der Antike verhält) völlig ausreicht. Wenn 
er aber gar damit schliesst, dass der Mangel an wahrhaft natürlicher 
Durchbildung den Gestalten der mittelalterlichen Kunst einen Ausdruck des 
Werdens gebe, der sie mehr belebe, als die erschöpfende Vollendung es 
vermöchte; dass sie nicht als körperliche Dinge wirkten, sondern wie eine 
himmlische Erscheinung, die nur komme und verschwinde, den Eindruck 
hinterlasse, aber sich der Prüfung gröberer Sinne entziehe; dass das stei- 
nerne Bild dadurch etwas von der luftigen Allgemeinheit des Gedankens 
habe u. s. w., so fühle ich hiebei den Boden für alle wahrhafte Kunstbe- 
trachtung unter meinen Füssen entweichen. Wer das Mittelalter nur eini- 
germaassen kennt, wird ihm seine so erhabene wie rührende ldealistik 
nicht abläugnen wollen; aber die Kunstgebilde des Mittelalters haben diese 
ldealistik, obgleich ihre Körperlichkeit mangelhaft organisirt ist, nicht 
1) Auf dies Doppelstadium der Entwickelung der mittelalterlichen Kunst 
kann man nicht Gewicht genug legen. Wie die romanische Architektur, am 
Schluss der Epoche, auch im Norden gelegentlich bis zur griechischen Feinheit 
der Profllirungen gelangt und wie dann der Geist der Zeit wieder ein neues 
Beginnen, mit neuen primitiven Ansätzen (denen des gothischen Styles) erheießht, 
so wird auch in der bildenden Kunst die schon auf dem Wege zur höheren 
Vollendung begriffene Thätigkeit (ich erinnere an die Wechselbnrger Kanzel- 
Sculpturen und an Nicole Pisano) wieder bei Seite geschoben, um in der Kunst 
des germanischen Styles die Schule nochmals von vorn anzufangen.
	        
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