der bildenden
Geschichte
Künste.
619
wickeln scheint). Er sieht eine sich gegenseitig bedingende und in solcher
Art den harmonischen Organismus des Ganzen erst beendigende Nothwen-
digkeit darin. Ich will dem an sich nicht widersprechen; aber ich glaube,
dass gerade im gothischen Baustyl, bei der lebenvollen Plastik seiner Ar-
chitekturformen, die Schönheit des polychromatischcn Elementes (und somit
auch die des Total-Eindruckes) wesentlich von dem entschiedensten Maass-
halten in dieser farbigen Zuthat abhängig ist. Ob und wieweit dies im
gothischen Mittelalter der Fall gewesen, 0b niCht übertriebene Consequenz
möglicher Weise auch hiebei über das Ziel hinansgeschossen, dürfte zu-
vörderst noch festzustellen sein; wenigstens dürfte aus der Schönheit der
Architekturformen an sich noch kein absoluter Schluss auf die Schönheit
der Wirkung, Welche etwa durch die Bemalung hervorgebracht war, zu
ziehen sein. In der Ste. Chapelle zu Paris, bekanntlich einem Gebäude
von sehr reinen Formen, fanden sich so viele Reste der alten polychroma-
tischen Dekoration, dass man diese in einer anscheinend durchaus richtigen
Weise erneuern konnte. Es ist darin aber eine solche Ueberfülle, und die
gereinigten Fenstergemälde vermehren dieselbe in einer so vielfach er-'
höhten Potenz, dass das Auge in diesem Gewirre von Farben und bunten
Lichtern all und jedes Gefühl für die architektonische Linie und Form
verliert und sich schliesslich sehr zufrieden erklärt, wenn es dieser ästhe-
tischen Tollheit wieder entführt worden 1). In dieser Uebertrcibung kann
nun allerdings so gut nationelle Neigung wie persönliche Laune im Spiel
gewesen sein; aber das Beispiel zeigt wenigstens auf sehr schreiende Weise,
welche Unterschiede zwischen Harmonie der Formen und der Farben mög-
lich waren. Eine möglichst gründlich durchgeführte Untersuchung über
die Polychrornie der mittelalterlichen und ganz besonders der gothischen
Architektur, mit genauem Eingehen auf die stylistischen Eigenthümlich-
kciten der betreffenden Gebäude, dürfte übrigens noch ein-verdienstliches
Unternehmen sein.
Ein kurzes Kapitel, gcwissermaassen Anhangsweise, giebt eine Ueber-
sicht über die abweichenden Formen kirchlicher und nichtkirchlicher
Architektur 2).
Ein andres, umfassenderes Kapitel, das von der Symbolik der
mittelalterlichen Architektur handelt, muss ich ebenfalls als An-
hang bezeichnen, als Anhang desshalb, weil das Resultat desselben im
Wesentlichen ein negatives ist, weil es von allerlei verkehrten Annahmen
handelt und diese freilich mit einfach gesunder Kritik zn nichte macht.
Aber diese Verkehrtheiten waren so vielgliedrig und bis auf heute in so
mannigfache Schleier gehüllt, die Kritik, welche die letzteren zerreisst
und die ersteren enthüllt, ist so entschieden. ihrer Gründe und ihres
ganzen Verfahrens so sicher, dass der Verfasser sich gerade hiedurch bei
allen denen, welchen es um sachliche Wahrheit zu thun ist, ein neues und
sehr; wesentliches Verdienst erworben hat. Der Dilettantisrnus der Men-
Ich schreibe nach dem Eindrucke, den ich im Jahre 1845 beim Besuche
der in der Restauration begriifenen Ste. Chapelle empfing. Ob seitdem etwa
Aenderungen darin vorgenommen, weiss ich nicht. 2) Der Verfasser erwähnt
dabei der interessanten und wuhlerhaltenen Schlossruixie zu Reichenberg, in
der Nähe des Rheins, unweit St. Goarshausßn, und des ehemaligen Kaiserschlosses
zu Goslar, deren beiderseitige Aufnahme und Herausgabe er dringend anräth.
Der deueseheir Knnst- und Culturgesehiehte würde hiedurch in der That ein
sehr schätzbarer Dienst geleistet werden.