Lithographie.
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Geduld hat, der weiss es, dass die Sterne der Schönheit ihren alten Stand
behaupten und fester stehen, als alle Nebel. Auch die Wandlungen des
ästhetischen Geschmacks ziehen der Schönheit oft ein absonderliches Ge-
wand an; aber es dauert doch nicht allzu lange: sie wirft die Hülle ab,
die ihr Manier und Doctrin und Dilettantismus übergehängt hatten, und
„eilt den alten Göttern wieder zu."
Eine schlichte Lithographie nach einem einfachen Bilde aus alter klas-
sischer Zeit, die mir eben vorliegt, rief mir solche und ähnliche Gedanken
wach. Sie ist in diesem Jahre gearbeitet. Sie macht uns das gute Alte
wieder jung und lebendig, und tausend sociale und ästhetische Schemen
der Neuzeit zertlattern ihr gegenüber in Nebeldunst. Es ist die Darstellung
eines leidenden Christus, nackt, an die Martersäule gebunden, nach einem
Bilde von Guido Reni, von Valentin Schertle auf Stein gezeichnet.
"Guido Reni? über den ist ja unsre Aesthetik längst hinweg!" Viel-
leicht, um zu ihm, wie zu manchem Andern, zurückzukehren. Er steht
freilich etwas mehr auf der Abend-, als auf der Morgenseite der Kunst.
Er gehört nicht mehr zu denen, die da ringen und drängen und mühsam
Stein zum Stein schleppen; er ist einer von denen, welche die Mittel zu
ihrer Kunst beisammen haben und über sie mit königlicher Sicherheit
schalten. Es ist etwas in dieser Sicherheit, das uns wohl thut; es erfrischt
uns doch, zumal wenn wir von manchen ohnmächtigen Versuchen müde
sind, der Gedanke, dass der Mensch zu solcher Herrschaft gelangen mag.
Lasst uns das Unsre dazu thun!
Die Gestalt des Erlösers, nackt, nur einen leichten Schurz um die
Lenden, die Hände auf den Rücken gebunden, steht etwas vornüber geneigt
vor dem Marterpfahl. Es ist eine Aufgabe, die tausendfach vorgekommen
ist, die befriedigend aber nur durch die volle künstlerische Klassicität ge-
löst werden kann. Hat die Form nicht dies geläuterte Ebenmaass, diese
Würde und Zartheit zugleich, dies schwellende, überall pulsirende Leben,
was soll dann die Aufgabe? Sie kann eben nur künstlerisch, im rein-
sten Sinne des Wortes, gelöst werden. Hier aber haben wir in der That
ein höchst vollendetes Bild körperlicher Natur, schwer gedrückt, und doch
nicht erliegend unter dem geistigen Leiden. das in den edeln Zügen des
Antlitzes sich ergreifend ausspricht. Die Schönheit im Dienste des Schmer-
zes, und Beides hier, Schönheit und Schmerz, in der Fülle männlicher
Kraft. Das ist Kunst. Das giebt sich, sich ganz, nicht geistreiche (oder
geistlose) Nebenbezüge und Nebenabsichten, rechts und links, unter denen
der Künstler gelegentlich wohl das vergisst, wovon er den Namen hat,
nämlich die Kunst.
Das Original von Guido Reni scheint seiner besten Zeit anzugehören;
mit der starken Kraft seiner früheren Werke verbindet sich hier schon der
änmuthsvolle Fluss und Ton seiner späteren; es scheint im Uebergange
Zwischen beiden Richtungen zu stehen. Die lithographische Ausführung
ist m" geeignet, dem Namen Schertles neue Ehre zu bringen. Mit der
glücklichen malerischen Breite des Tones, mit der er schon so manche
treftliche Nachbildung klassischer Malerwerke durchgeführt hat, verbindet
sich hier eine so zarte wie körnig markige Vortragweise.
Die Lithographie ist fast 18 Zoll hoch und über 10 Zoll breit. Das
Original hat nach der Unterschrift eine Höhe vQn 7 Fuss bei 4 Fass 2 Zoll
Breite und befindet sich im Besitz des Herrn Trackert in Frankfurt a. M.
Eine Titel-Unterschrift hat die Lithographie nicht; der Raum derselben