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Kritiken.
und
B erichte
hinaus erstreckte. Ein Werk des alten in sich versenkten byzantinischen
Gedankens, darauf das Stammhaus Venedigs gegründet ward, wie ein ver-
steinertes Räthsel in das Leben der Jetztzeit hereinragend. Ein Bau, fast
wie ein troglodytisches Werk, wo Wölbung an Wölbung sich schiebt und
der dunkle Naturtrieb nach Gestaltung nur in den Säulen, welche der
Tropfstein bildet, in den Nestern der Krystalle, in dem glitzernden Schein
der eingesprengten Erze sich kund giebt, während erst in späterer Zeit
(hier in der gothischen Zuthat über den schweren Giebelbögen des Aeus-
sern) ein vegetatives Leben darüber hingewachsen ist. Und Alles, zumal
Wände und Wölbungen des Innern, wiederum nur dazu da, um in ausge-
dehnter Bilderschrift, wie jene Riesenbauten Aegyptens, die Urkunde des
alten Geschlechts, seiner Gedanken und Gesinnungen, aufzunehmen, ie der
stets neuen Wechselfolge der Späteren hinzureichen und durch sie Ver-
gangenheit nnd Zukunft aneinander zu knüpfen.
Aber die junge Zeit ist eine andre werden, als die alte war; sie sieht
mit anderm Auge, sie wirft das Senkblei ihrer Gedanken nach anderm
Grunde aus. Wenn du zur Abendstunde in die Markuskirche trittst und
nur von einem Seitenaltar noch der murmelnde Schall einer späten Messe
ertönt und der verlorne Schimmer der Kerzen über die geschwärzten Gold-
gründe an Wänden und Wölbungen hinirrt; wenn du Nachts, beim Ge-
witter, unter den Bogengängen des Markusplatzes wandelst und das Bild
der Kirche wie ein Meteor im Blitzlicht aus dem Dunkel auftaucht und
wieder verschwindet, dann fühlst du wohl das Mährchen ihres Daseins
und den phantastischen Reiz desselben, aber eben nur wie ein Mährchen,
wie ein Spiel der Phantasie. Wenn heller Sonnenschein auf dem Platze
liegt, wenn drin in der Kirche ein lustiges Volk sich festlich drängt, bleibt
der Bau mit all seinen Wundern dir fremd und unverstanden, und du hast
auch wohl kaumZeit, mit Forschbegier und emsigem Fleiss zur Lösung
seiner Räthsel dich anzuschicken. Tizian und Pordenone und Paul Vero-
nese ziehen dich mit zu grosser Gewalt in ihre Kreise; das Beil der
schwarzen Gondel, die dich durch die prächtigen Wasserstrassen und zu
den Nachbarinseln führt, glänzt dir zu lockend entgegen.
Wir bedürfen eben eines Wegführers, eines freundlichen Vermittlers,
wenn die Markuskirche uns mehr bieten soll als phantastischen Reiz, wenn
wir eindringen wollen in die Grundsätze ihrer Gestaltung, in die Form
ihrer Bilderschrift, in den Gedankenkreis, der dieser Schrift ihr Dasein
gab, wenn wir über das Alles zum Verständniss kommen, die alte Zeit in
unsrer inneren Anschauung crneuen und, je nachdem wir dazu ein Be-
dürfniss haben, unser heutiges Streben zu ihr in ein Wechselverhältniss
setzen wollen. Eine solche Vermittelung kann aber nicht durch das ge-
schriebene Wort, sie kann nur durch bildliche Darstellung des Baues und
all seiner Einzelheiten gegeben werden, und eine solche wie sie bisher
noch nicht gegeben war bietet uns das schöne Werk, das in der Ueber-
Schrift genannt ist.
Das Werk entsagt von vornherein mit Absicht aller Wiedergabe jener
malerlsßhßn Wirkungen der Markuskirche, die einen so bestechenden Zau-
ber auf uns auszuüben geeignet sind; es will eben nichts. als uns in klaren
vßfitändlißhstßr Weise vergegenwärtigen, wie das räumliche Gefüge ihres
Baues beschaffen, mit welchen Zierden und Bildern derselbe versehen ist
und in welcher Weise die letzteren gestaltet sind. Es will nur dies, aber
dies vollständig. bis auf den letzten Punkt, und es erfüllt seine Absicht,