über Raphaels
Einige Bedanken
Kreuztraguxzg.
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mich vielmehr zu der Art und Weise, wie diese Composition in der Aus-
führung des Bildes individuelles Leben empfangen hat. So sehen wir
dem] in dem ausführenden Künstler zunächst einen solchen, der die geisti-
gen Anforderungen der Composition allerdings wohl zu würdigen im
Stande war. Der Kopf des Simon von Cyrene, der dem niedergesunkenen
Erlöser das Kreuz abzunehmen im Begriff ist und sich mit lebhaftem Un-
willen gegen die brutalen Schergen wendet, ist im Ausdruck voll ergrei-
fender Energie; der Kopf Christi verräth ebenfalls ein tiefes Gefühl, wenn-
gleich mir die von früheren Berichterstattern (z. B. Mengs) gerühmte
Idealität desselben hier nicht so gar entschieden entgegen getreten ist.
Bedeutend ist ferner der Ausdruck in den Köpfen der Gruppe der heiligen
Frauen; aber er erscheint hier schon nicht völlig frei entwickelt; es ist
etwas Maskenartiges darin, das sich im Einzelnen selbst zu manierirten
Motiven steigert. Bedenklicher wird es, wenn wir die Aeusserungen kör-
perlicher 'l'hätigkeit in den einzelnen Gestalten und noch mehr, wenn wir
das Gefüge des körperlichen Organismus in denjenigen, die gerade mit
Energie körperlich handeln sollen, betrachten. Schon die so edel und
grossartig componirte Gruppe der Frauen hat in mehrfacher Beziehung
etwas starres; die vorderste, die der niedersinkenden Mutter des Erlösers
unter den linken Arm greift, kniet in ziemlich steifer Stellung und hebt
den Mantel über dem Haupte der Maria mit ebenso steifer wie kleinlicher
Handbewegung empor; Johannes, hinter der Maria, scheint lebhaft bewegt,
ohne doch zu einer Aeusserung seiner Bewegung zu kommen; seine Arme
verlieren sich hinter den Schultern der Maria, ohne dass man sieht, was
er beabsichtigt, ja ohne dass er, Wenigstens mit dem linken Arm, überhaupt
im Stande wäre, in die Bewegung der Gruppe einzugreifen. Simon von
Cyrene und der im Vorgrund befindliche Scherge zeigen eine Mächtigkeit
der Muskulatur, die an prunkvolle Ostentation streift, die aber leider mehr
blendet, als nachhaltig wirkt. Simon hat in den Massen des Oberkörpers,
namentlich der Arme, ein verhältnissloses Uebergewicht über die unteren
Theile des Körpers 1); die Richtigkeit der Muskulatur in seinen nackten
Theilen ist mir sehr bedenklich, der rechte Oberarm z. B. setzt in ziemlich
monstroser Weise gegen die Schulter an und erscheint dadurch steif. Auch
der Scherge im Vorgrund scheint mir in den Körperverhältnissen nicht
ganz richtig; jedenfalls werden bei seinem Unterkörper die An- und Ein-
sätze der Glieder und der einzelnen Muskeln mancherlei Bedenken unter-
liegen, und muss dies entschiedener zu der steif schwebenden Stellung, in
der er sich trotz seiner ungestümen Bewegung befindet, beitragen, als der
311 sich geringfügigere Umstand, dass sein linker Fuss ohne eine Schatten-
wirkung die Erde berührtz). Dann sind die Hände fast durchgehend hart
und eintönig, besonders die des Erlösers, Simons und des Schergen hinter
diesem. Ausserdem ist noch zu bemerken, dass der wunderliche, langge-
i) Man sagt vielleicht: er stehe vornübergebeugt, sein Oberkörper sei dem
Beschauer näher, sein Unterkörper ferner und perspektivisch verkürzt. Ich
bitte, die Stellung nachzumachen und sich dadurch zu überzeugen, wie wenig
hiebei von Vor- und Zurücktreten und von Verkürzung die Rede sein kann.
2) Die obige Bemerkung ist, wie ich mich nachträglich nach Herrn Schle-
singers näherer Darlegung übßrlßllät habe, unrichtig. Der Sciierge setzt den
linken Fuss hinter eine kleine Erderhöhung, die, mit ihrem Saum die Ferse des
Mannes streifend, den Schatten verdeckt. Aber ist nicht auch ein solches Arrange-
mßnt, dessen Räthsel sich erst nach besonderm Studium löst, bedenklich ?