596
Berichte und
Kritiken.
motivirt, so dass ich in der That nicht allzuviel zu wagen glaube, wenn
ich aus ihr einen Rückschluss auf das Original mache. Allerdings kommt
es hiebei zunächst in Frage, inwieweit überhaupt der ursprüngliche Zu-
stand des letzteren noch erhalten und erkennbar sein mag. Schon die
Mirakelgeschichte, die Vasari von demselben erzählt: wie das Bild gleich
nach seiner Vollendung, also mit noch ziemlich frischen und verletzbaren
Farben, nach Palermo eingeschiftt worden und wie es, als das Schiff mit
Mann und Maus untergegangen, in seiner Kiste den weiten Seeweg nord-
wärts nach Genua zurückgelegt habe, schon dieser Umstand dürfte uns
schliessen lassen, dass es mit der ursprünglichen Beschaffenheit desselben
eine kritische Sache sei; da die Hauptsache des Mirakels aber eben darin
bestand, dass das Bild trotz aller ätzenden Kraft des Seewassers völlig
unverletzt an der genuesischen Küste landete, so werden wir hiebei unser
kritisches Bedenken ausser Spiel lassen müssen, sollten wir auch in ratio-
nalistischer Auslegung der ehrwürdigen Tradition gar zu der gewagten
Hypothese kommen, dass nicht die Kiste allein, sondern mit ihr zugleich
das solide 'l'ransportschiif den unbeabsichtigten Weg nach Norden gemacht
habe. Dann wissen wir, dass das Bild, als es nach Paris gebracht war,
dort von dem Holz auf Leinwand übergetragen ist, und wir können somit
leicht auf die Vermuthung kommen, dass diese schwierige Manipulation
vielleicht doch starke Verletzungen hervorgebracht und in Folge dessen
bedeutende Uebermalung nöthig gemacht haben dürfte. Aber wir kennen
genug andre Bilder, bei denen diese Operation mit mehr oder minder
guten Erfolgen vorgenommen ist, ohne doch, wie selbst bei Raphaels heili-
ger Margaretha im Louvre, die dadurch bekanntlich im äussersten Grade
angegriffen wurde, den Charakter der Originalität ohne Weiteres auszu-
löschen. Beruhigen wir uns also auch hiebei, so weit wir es vermögen,
und halten wir andrerseits an der Bemerkung fest, wie die Schlesingefsche
Kopie in Allem, was Auffassung, Behandlung, Sonderharkeiten und Mängel
anbetrifft, eine so charakteristische, in sich übereinstimmende Eigenthüm-
lichkeit hat, dass wir dieselbe doch nicht füglich auf Rechnung etwaiger
Störungen der ursprünglichen Beschaffenheit des Originales, und ebenso-
wenig, wie es scheint, auf den etwaigen Eigenwillen des Kopisten, dessen
Meisterschaft in sonstigen Leistungen der Art überdies zur Genüge bekannt
ist, setzen dürfen. Ist Herr Professor Schlesinger, wie es allerdings der
Fall sein dürfte, bemüht gewesen, bei Ausführung der Kopie von den ohne
Zweifel vorhandenen zufälligen Störungen des Originale-s abzusehen und
dasselbe in möglichster Integrität wiederzugeben, so werden wir ihm auf
Grund seiner langjährigen reiflichen Erfahrungen auch hierin einigen
Glauben schenken und die Kopie soweit dies überhaupt bei einer Kopie
zulässig sein kann zur Basis, ich will nicht sagen: eines absoluten
Urtheils, aber doch einer nicht unbegründeten Hypothese über die künst-
lerische Stellung des Originales nehmen dürfen.
_DaSS die Compositiou der Kreuztragung, in dem Zusammenfassen der
dann enthaltenen Momente, in der dramatischen Entwickelung der Hand-
lung, m der, bei dem Höhenverhältniss des Bildes doppelt schwierigen
Anordnung und Gruppirung, eine der genialsten Oonceptionen Raphaels ist,
bedarf hier keiner Auseinandersetzung. Ich würde nicht bloss das Urtheil
mehrerer Jahrhunderte, ich würde das Urtheil eines jeden, für Kunst irgend
empfänglichen Gemüthes unberücksichtigt lassen, wollte ich dem wider-
sprechen. Ich habe also nicht nöthig, hierauf weiter einzugehen; ich wende