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Kritiken.
Berichte und
des gothischen Styles in Deutschland, indem er in den sechziger Jahren
des 13ten Jahrhunderts gegründet und, wenigstens zur grösseren Hälfte (in
seinen ostwärts belegenen Theilen) gegen den Schluss des Jahrhunderts
vouendet wurde, Im 14ten Jahrhundert wurde der Bau, nach einiger
Unterbrechung, westwärts fortgeführt, im Beginn des folgenden die Thurm-
facade an der Westseite (von der aber nur der imposante Unterbau erhalten
ist) hinzugefügt und sehr bald darauf dieser Facade noch eine besondre
Kapelle vorgebaut. Mit Ausnahme dieser westlichen Theile und mit Aus-
nahme einzelner Details an den übrigen Theilen, wohin namentlich auch
ein grosser Theil des in der späteren Zeit des Mittelalters zumeist wohl
erneuten Fensterstabwerkes gehört, sehen wir hier also eine Darlegung des
gothischen Systemes in ursprünglicher Reinheit und Klarheit vor uns. Das
letztere hat hier aber zugleich ein bestimmt ausgesprochenes, eigenthüm-
liches Gepräge; [es bildet nämlich wie auch manche andere gothische
Bauwerke in den sächsischen Landen, von denen uns das Puttrich'sche
Werk bereits Kunde gegeben, sehr entschieden den Uebergang zwischen
den Bausystemen der westlichen und der nordöstlichen Gegenden Deutsch-
lands. Dies bezieht sich auf Dasjenige, was überall in der gothischen
Architektur als die Hauptsache betrachtet werden muss, auf die Anlage
und Formenbildung des Innern. Die Schiffe sind gleich hoch, die Pfeiler
in ihrer Grundform viereckig, welcher Form entsprechend auch in den
Bögen des Gewölbes, die die Pfeiler verbinden, die breite Leibung vor-
hcrrscht; doch sind die Pfeiler zugleich mit I-lalbsäulchen besetzt, die als
Gurtträger emporlaufen und die in feinerem Detail gebildeten Gewölbgurte
(welche auch vor jenen breiten Leibungexi vertreten) tragen. Hiedurch ge-
winnt das Innere etwas von jener kühlen, festen Ruhe und Erhabenheit,
durch welche die bedeutenderen Bauten in den brandenburgischen Marken
und den baltischen Küstenländern ausgezeichnet sind, während zugleich
das feinere Spiel der Gurtträger den Eindruck einer liebenswürdigen An-
muth, einer freieren Beweglichkeit hinzufügt, ohne doch bei der
grösseren Stärke und Sonderung des Details, die überall den Bauwerken
frühgothischen Styles eigen zu sein pflegt, mit jener energischen Grund-
stimmung in Disharmonie zu treten. Die verschiedenen Durchblicke des
Innern, die der Herausgeber uns in sorgfältig ausgeführten Blättern vor-
führt, geben von dieser Eigenthümlichkeit eine sehr klare und befriedi-
gende Anschauung.
Es würde zu weit führen, auf die andern minder erheblichen Eigen-
thümlichkeiten. die sich an dem Meissencr Dome nach Maassgabe der vor-
liegenden Blätter bemerklich machen, hier näher einzugehen. Von dem
Bilderschmuck jedoch, mit welchem dies Gebäude versehen ist, verdienen
vier Statuen, die sich im Chore befinden und ohne allen Zweifel in der
ersten Bauperiode, also in der späteren Zeit des 13ten Jahrhunderts ge-
fertigt sind, eine nähere Beachtung. Sie stellen die ursprünglichen Gründer
des Domes, Kaiser Otto I. und seine zweite Gemahlin Adelheid, und die
Sßhlltlpatrone desselben, den Evangelisten Johannes und den heil. Donatus,
dar. Der Styl dieser Sculpturen ist vollständig der der bekannten Statuen
im Westchore des Naumburger Domes und besonders die Gestalten des
Kaisers 11115 der Kaiserin zeigen diesen Styl den vorliegenden Abbildungen
zufolge i!) bfdellisamer, eharaktervoller Würde. Wir haben hier also ein
neues Beislllel der Thätigkeit jener Bildhauerschule vor uns, welche im
13ten Jahrhundert in den sächsischen Landen so vielfach Bedeutendes