526"
vom Jahr
Reisenotlzen
1845.
war. mit heimbrachte. Ein Zufall lenkte meinen fast ziellosen Pfad über
München. Ich schweifte mit meinem Wandergenossen durch die Stadt um-
her, die Dinge behaglich anschauend wie andre Menschenkinder, ohne
Kritik, ohne Studium, ohne irgend Andres zu suchen oder zu wollen, als
jene erfrischende Anregung des Gefühles, die überhaupt das Endziel der
Reise war. So träumte ich auch durch die Säle der Pinakothek hin. Doch
muss ich hier zugleich noch Eins bemerken. Ich liebe es, wenn ich eine
mir fremde Kunstsammlung, und besonders wenn ich etwa eine Ausstellung
neuer Kunstsachen besuche, vorerst hin und her durch die Räume zu wan-
deln, ohne sofort Einzelnes bestimmt in's Auge zu fassen; ich warte gern
ab; dass diejenigen Werke, die eine volle, gesammelte Existenz haben, sich
selbst bei mir ankündigen; ich habe von solchem Verhalten in der Regel
auch den besten Nutzen gehabt: gerade die festen, wahrhaft lebendigen
Werke rufen dabei das auf Nichts bestimmt gerichtete Auge zur gründ-
lichen Schau auf, während die Werke des Scheines nur einen flirrenden,
unsteten Eindruck machen, die matten aber, wie billig, im Nebel bleiben.
Ich ging also durch die Pinakothek, weder nach Kunstgenuss verlangend,
noch kunsthistorische Forschung beabsichtigend, ganz wie ein englischer
Tourist, der reist, um eben zu reisen. Wohl aber fühlte ich bald, wie
hier und dort jene Wirkung auf mein Auge sich geltend machte, bei
einem Bilde jedoch stärker, als bei allen übrigen, und auf's Neue, so oft
ich vorüberschritt, und immer mächtiger, dass mir zuletzt doch nichts übrig
blieb, als dieser mahnenden Aufforderung mich hinzugeben. Es war das
Bild von Rubens, welches den Simson darstellt, wie er, von der Delila
berückt, durch die Philister gefesselt wird. Welch eine innerliche Lebens-
fülle trat mir nun in diesem Bilde entgegen! welch eine geniale Bewälti-
gung des geschichtlichen Momentes! welch ein freudiger künstlerischer
Adel, der dies, überall bis zur höchsten Kraftäusserung gesteigerte Dasein
dennoch in den Gesetzen des reinsten Wohllautes sich bewegen liessl Was
die Pinakothek sonst an Niederländern, was sie an Italienern und Deut-
schen enthielt, was in ihrer Loggia an modernen Freskobildern prangte,
blieb stumm vor diesem Eindruck. Mir war ähnlich zu Muthe, wie vor
Jahren, als ich nach langer Pause den Shakspeare wieder zur Hand nahm
und mir zum ersten Male, so sehr ich mich früherhin an den Einzelheiten
seines Machwerkes erbaut hatte, die unvergleichliche Meisterschaft dieses
Grössten unter den Neueren aufging.
Wozu aber ich diese Beichte ablege? Nicht des Rubens wegen, der
solcher Apotheose nicht bedarf und der im Vertrauen gesagt darin
doch auch von Meister William wieder erheblich abweicht, dass er un-
gleich mehr ungleichartig ist, als dieser. Auch gebe ich gern zu, dass mein
künstlerischer Geschmack mit den Jahren ein andrer geworden sein mochte
("ein freierer" werden die Einen sagen, „ein verflachter" die Andern); und
auch das mag mit in Anrechnung zu bringen sein, dass die Enthaltungs-
km3 die ich mir auf jener Reise verordnet hatte, mich zu einem doppelt
ungestümen Bruch des Gesetzes reizte. Bei alledem aber hat das Phänomen
doch noch eine andre Seite. Es hat mir einen Fingerzeig gegeben über
das eläentlich naive Sehen. Wir Leute von der kunstwissenschaftlichen
Prüfessioll kommen an die Dinge mit so vielen Voraussetzungen, mit einem
so stattlichen Gerüst im Kopfe, in dessen Fächer die Dinge, auf eine oder
die andre Art, untergebracht werden müssen, dass diese Operation des
Unterbringens und Einregistrirens die Ilnbefangenheit unsres Urtheiles nur