Volltext: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte (Bd. 2)

Etudes sur l'Allemagne. 
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kränzen sich mit Figuren, die dreifache Eintheilung der Geschosse Wird 
zur festbestehenden Regel u. s. w.; mit einem Wort, wenn man den letzten 
Stein von Saint-Georges zu Bocherville beharren hat, so ist der gothischß 
Plan vollendet."  In der That scheint die Anordnung der gothischen 
Facade in Frankreich ihren Ursprung zu haben; schon in den ältesten by- 
zantinischen Kirchen der Normandie (denen von Caen) dürfte man ihr Vor- 
bild erkennen; in der That scheint sich dort eine der zierlicheren Eigen- 
thümlichkeiten des gothischen Kathedralstyles, der Kranz der Kapellen, 
der den Chor umgiebt, zuerst und am Consequentesten auszubilden; 1n der 
That scheinen die ältesten gothischen Kirchen in Frankreich älter zu sein, 
als die ältesten in Deutschland. 
Doch sind auch noch einige andre Verhältnisse ins Auge zu fassen- 
Jene ganz allmähligen Uebgrgänge aus dem Rundbogen in den Spitzbogen 
sind in Deutschland ebenso nachzuweisen, wie dies u. A. Wetter für die 
verschiedenen Bautheile des Domes von Mainz auf sehr schöne Weise aus- 
geführt hat. Dass der sogenannte Uebergangsstyl in Deutschland nicht vor- 
handen sei, ist eine reine Chimäre. Nicht blos zeigt er sich, neben den 
mannigfachsten Ansartungen des byzantinischen, an den Bauten des Nieder- 
rheins auf eine unverkennbare Weise; er hat sogar in Deutschland eine 
ganz eigenthümliche Gattung von Gebäuden hervorgebracht, wie sie, mei- 
nes Wissens, in andern Ländern gar nicht oder nur als vereinzelte Aus- 
nahmen vorkommen. Ich meine jene Kirchen, bei denen alle Gewölblinien 
des Inneren in Spitzbögen geführt sind, während im Detail allerdings noch 
byzantinischer Formensinn vorherrseht und während das gesammte Aeussere. 
namentlich die Fenster und Thüren, noch byzantinischen Charakter trägt. 
Ich rechne dahin das Schiff des Naumburger Domes, die Stiftskirche von 
Frizlar, den Dom von Bamberg, die Pfarrkirche zu Neustadt an der Wien, 
u. a. m. (Man muss diese Gebäude freilich nicht, wie es hier und dort 
wohl geschieht, unkritischer Weise in das elfte oder zehnte Jahrhundert 
setzen.) Bei andern, wie z. B. bei der Stiftskirche zu Limburg an der 
Lahn, sind dann auch schon die äusseren Oeifnungen im Spitzbogen ge- 
bildet. Es lässt sich eine ganze Stufenleiter von Gebäuden namhaft ma- 
chen, die allmählig zu den Formen der reinen gothischen Architektur 
hiniiberleiten. 
Gleichwohl ist in diesem Entwickelungsgange Ein Element zu berück- 
sichtigen, welches mir bei Weitem das Wichtigste zu sein scheint und bei 
dem besonders ich einen, wenn auch mittelbaren und bedingten Einfluss 
Von Seiten Frankreichs annehmen möchte. Dies ist der Punkt, wo der 
feinere Organismus des Inneren, das System der Bildung der architektoni- 
Schen Glieder jenes byzantinischen Prineips, das bestimmende Gesetz der 
Horizontallinie verlässt und die umgekehrte Richtung in das Vertikale, die 
eben den Gliedern einen so verschiedenen Charakter gewährt, annimmt. 
Diese Umwandlung scheint mir wesentlich an denjenigen Zeitpunkt ge- 
knüpft, wo die byzantinische Grundform des Pfeilers (im Inneren der 
Kirche, zwischen den Schiffen) verschwindet und statt deren die aufsn-e- 
bende, lebendigere Grundform der Säule erscheint. In schwerer und fast 
uranfanglicher Weise, als kurze gedrückte Säule ohne Gliederung, sehen 
wir diese Form in den ältesten gothischen Kirchen Frankreichs, z. B. in 
Notre-Dame zu Paris; später wird die Säule höher und es lehnen sich 
Halbsäulchen als Träger der Gewölbgurte an dieselbe an, in einer Weisi 
edoch, dass jene  an sich auch noch rohe  Grundform hier charake- 
Kueler, Kleine Schrißcn. u. 4
	        
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