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Berichte und Kritiken.
Erscheinung des ersteren willkommen heissen. Die Subjektivität des Ver-
fassers, die Weise zu empfinden, zu betrachten, zu denken, ist natürlich
eine andere, als die meinige; die Gegenstände erscheinen bei ihm noth-
wendig in einem andern Lichte. Der Leser, der an unsern Bestrebungen
Theil nimmt, wird durch diese vermehrte Beleuchtung besser vor einsei-
tigem Urtheil bewahrt und, wo es nicht ohnedies schon der Fall ist, zu
einem selbstständigeren Urtheil veranlasst werden. Dem Verfasser des
zuerst erschienenen Werkes namentlich ersteht durch das Studium des in
Rede stehenden der grosse Vortheil, Dinge, die er vielleicht weniger be-
achtet oder bedacht hatte, gründlicher aufzufassen, eigene Irrthümer zu be-
richtigen oder auch, wo er Recht zu haben und etwa missverstanden zu
sein glaubt, seiner Ansicht inskünftige eine entschiednere Sicherung
zu geben.
So gestaltet sich das Werk des Herrn Schnaase in äusseren und inne-
ren Beziehungen wesentlich anders als das meine. Jene ausführliche Dar-
stellung der kulturgeschichtlichen Momente, in denen die Kunst der ein-
zelnen Völker wurzelt, die lebhaftere Ausmalung des Bildes der jeweiligen
künstlerischen Zustände musste seiner Arbeit eine ungleich grössere Aus-
dehnung geben. Zugleich wurde er, um seinem Urtheil von vornherein
eine genügend bestimmte Basis zu geben, genöthigt, eine ausführliche
theoretische Abhandlung über das Wesen der Kunst und über die Weisen
ihrer Erscheinung voranzuschicken. Der erste uns vorliegende Band seines
Werkes, dem ohne Zweifel noch eine Reihe von Bänden folgen wird,
enthält ausser dieser Abhandlung nur die Geschichte der Kunst bei den
Aegyptern und den alten Völkern von Asien. Der historische Theil des
ersten Bandes entspricht mithin ungefähr dem ersten Abschnitt meines
Handbuches; doch finden sich auch hier in Wahl und Anordnung des
Stoffes einige, nicht unerhebliche Verschiedenheiten. Was ich über die
rohen urthümlichen Steinmonumente, besonders des europäischen Nordens,
über die vereinzelten Denkmäler der Südsee, über die zahlreichen Werke
des alten Amerika, namentlich die mexikanischen, als Zeugnisse der ersten
Stufen künstlerischer Entwickelung beigebracht, ist von Hrn. S. unberück-
sichtigt geblieben. Er hat sich in der Recension meines Handbuches darüber
ausgesprochen, dass diese Dinge nicht füglich in die Geschichte der Kunst
gehörten; wir haben somit einen Bericht über sie auch in einem folgen-
den Bande wohl nicht zu erwarten. Ich glaube aber, dass das Werk des
Hrn. S. dadurch etwas von dem Reize und von der Belehrung entbehrt,
die uns das Hinabsteigen in primitive Zustände stets gewährt. _Wenu ich
auch zugeben will, dass die Steinmonumente der Celten und Skandinavier
noch keine eigentlich künstlerische Bedeutung haben, so ist eine solche
doch den Denkmalen von Mittel-Amerika deren Kenntniss übrigens in
der jüngsten Zeit, seit dem Erscheinen meines Handbuches, wieder so
reichlich vermehrt ist keinesweges abzusprechen. Und wenn sie auch,
wie Hr. S. sagt, in die Tradition der Geschichte nicht weiter eingegriffen
haben, so sind sie doch schon durch den einen Umstand vom grössten In-
tereSSß für eine allgemeine Kunstgeschichte, dass sie uns einen so ein-
fachen Zustand künstlerischer Entwickelung und Durchbildung zeigen, wie
wir ihn anderweitig nirgend an erhaltenen Monumenten kennen. Auch
möchte die Behauptung, dass sie ausserhalb einer umfassenderen Tradition
stehen, einstweilen noch dahinzustellen sein, wennschon ich der neuerlich
aufgekommenen Hypothese, die die Erscheinung dieser Denkmäler aus dem