Ueber den Kölner Dom.
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befriedigende Weise gelöst wird, dies ist es, was dem gothischen Baustyl
Seine grosse Bedeutung, seinem Pnncip eine so _vlel hehere Stelle giebt.
als das Princip der griechischen Architektur einnimmt. Darum scheint es
mir unbedingt nöthig, dass der Architekt, wenn er das Studium der grie-
chischen Formen beendet hat, sich sofort dem gründliellSten Studium des
gothischen Baustyles zuwende, und dass erst, wenn deS letztere Vellkem-
men absolvirt ist, von dem Abschluss seiner künstlerischen Studien die
Rede sein könne. Es ist dies eine Ansicht, die, bei dem zweideutigen
Blick, mit dem man das Gothische zu betrachten gewöhnt ist, Manchem
vielleicht etwas fremd vorkommen mag; doch liegt glücklicher Weise das
Beispiel einer andern Kunst und der dortigen Studienweise nahe genug,
um mich vollkommen zu rechtfertigen. Ich meine das Beispiel der Musik.
Einfacher und doppelter Coutrapunkt verhalten sich gerade ebenso, wie
griechisches und gothisches Architektursystem; es giebt aber wohl Keinen
unter Allen, die auf musikalische Bildung Anspruch machen, der es nicht
wüsste, dass nur derjenige der musikalischen Formen Herr ist, dass nur
derjenige mit Freiheit schaffen und das Geschatfene in edler Bildung
vorlegen kann, der eine genügende Schule im Contrapunkt durchgemacht
und das System eines Händel, eines Sebastian Bach vollkommen gründ-
lich durchgearbeitet hat. Die Richtigkeit dieses Grundsatzes bezeugt auch
die heutige Musik zur Genüge; jenes zerfahrene, französich lässige We-
sen, das bei unsern Opern einzureissen beginnt, das für den Augenblick
Wohl reizt und uns doch so unbefriedigt lässt, was ist es anders, als der
Mangel an Schule? und umgekehrt zeigt sich Meisterschaft in der contra-
punktistischen Form ungleich häufiger mit eigenthümlichem Adel des
Sinnes, mit freiem und klarem Bewusstsein, als etwa mit kleinlicher Pe-
danterei verbunden. Die Gründe dafür liegen auch nahe genug.
Ich kehre zum Studium des doppelten Contrapunktes in der Archi-
tektur, d. h. des gothischen Architektursystemes, zurück. Wenn der
Architekt heutiges Tages auf Reisen geht, so geschieht es allerdings oft
genug, dass er seine Skizzenbücher mit allerlei interessanten, pittoresken
und romantischen Dingen, unter denen gelegentlich auch gothische Archi-
tekturstücke vorkommen, anfüllt. Dies kann indess wohl nicht mit dem
Namen des Studiums bezeichnet werden. Die Werke, in welchen wir aus-
führliche Darstellungen gothischer Gebäude besitzen, werden von den
Architekten selten aufgeschlagen, gewöhnlich nur, wenn es darauf an-
kommt, rasch irgend eine bildliche Darstellung zu" skizziren, um danach
irgend eine gothische Dekoration, etwa für ein Grabmonument oder für
einen Ofen, entwerfen zu können; zum Studium, d. h. zum Eindringen in
den Organismus der Formen, in deren Zusammenhang, gegenseitige Be-
dingung und Ausbildung, werden diese Werke nur überaus selten benutzt.
Aber es ist freilich auch zu bemerken , dass diese WVerke nur selten Ge-
legenheit dazu geben; und hier komme ich auf den eigentlichen Punkt,
auf den ich hinauswollte: -_es fehlt uns noch immer fast gänzlich an
einem Werke, welches uns 111 die Eigenthümlichkeiten der gothischen
Architektur auf so umfassende und zureichende Weise einführte , wie wir
deren genug zum Studium der griechischen Architektur besitzen! I-liemit
Soll wahrlich den verdienten Männern, denen wir die Mehrzahl der
Werke über die mittelalterliche Kunst verdanken und die dieselben oft
mit so grosser Aufopferung hergestellt haben, kein Vorwurf gemacht wer-
den; ihre Absicht konnte, in den meisten Fällen, nur die sein, den Ge-