Volltext: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte (Bd. 2)

Ein Bild von 
Correggio. 
grossen Vorzug giebt, das ist das schöne, gediegene Maass im Ausdruck 
dßS Gefühls, Welches hier überall durchgeht. Die Composition ist durch- 
aus ruhig, voller Würde und Adel; die Gestalten entwickeln sich klar 
und einfach, Ohne alle gesuchten Verkürzungen; keine einzelne Geberde 
ist in einem solchen Maasse gesteigert, dass sie etwa an Manier streifte 
oder_ wirklich dazu würde,  was man sonst bei der Betrachtung von Gor- 
reggios Gemälden nicht gar selten zu überwinden hat, um zu dem Ge- 
nusse seiner eigenthümlichen Vorzüge zu gelangen. Es ist vielmehr durcl1- 
weg eine Unschuld in dieser Grazie, welche man in der That als das Er- 
gebniss der glücklichsten Stunde betrachten darf.  Als einen andern 
Vorzug muss ich auch den Umstand hervorheben, dass das Bild nur sehr 
wenige Retouchen, keine in den sämmtliehen l-laupttheilen der Composition, 
hat, dass man vielmehr fast überall noch die ursprüngliche Pinselführung 
verfolgen kann, dass fast durchweg die Farbe noch in ihrer ganzen ur- 
sprünglichen Kraft wirkt.  
Ueber die Originalität eines Bildes von so ganz entschiedenen Vorzü- 
gen kann kein Zweifel obwalten; auch ist von Allen, die dasselbe neuer- 
dings gesehen haben  Künstlern und Kunstforschern  soviel mir be- 
kannt, kein Zweifel ausgesprochen worden. Schwieriger dürfte es sein, 
die Stelle, welche das Bild in dem Entwickelungsgange des Meisters ein- 
nimmt, namentlich das Verhältniss zu dem grossen Dresdener Bilde, zu 
bestimmen. Der einfachen Composition wegen möchte man zunächst ge- 
neigt sein, das in Rede stehende Bild für ein Vorstudium zu diesem zu 
betrachten; erwägt man aber die grosse Reinheit und Vollendung der 
Composition, die in der That erhebliche Vorzüge im Vergleich mit der 
Composition des grossen Bildes hat, so darf man wohl, wie es scheint, 
mit besserem Grunde annehmen, dass Correggio das kleine Bild nach jenem 
gemalt und dass er hierin sich selbst zu mässigen und zu läutern ver- 
sucht habe. 
Beiläufig bemerke ich, dass noch von verschiedenen Skizzen oder 
ähnlichen kleinen Bildern der heiligen Nacht, als Originalen Correggids, 
berichtet wird; doch reichen die Mittel, die ich eben zur Hand habe (das 
Bedeutendste im zweiten Bande zu Füsslfs Künstlerlexikon) nicht aus, 
um auch über diese, und ob das besprochene Bild etwa mit Einem von 
ihnen identisch sei, etwas zu bestimmen. 
Jedenfalls ist hier, im kleinen Raum, das ganze Geheimniss der Kunst 
der Malerei beschlossen, und ich darf somit wohl den Wunsch hinzufügen, 
dass ein solches Meisterwerk ersten Ranges dem Vaterlande, dereinst an 
öifentlieher Stelle, erhalten bleiben möge-l). 
 Nachträgliche Bemerkung.  Das Bild ist seitdem in die Gemäldegallerie 
des Berliner Museums übergegangen und derselben unter Nro. 223 eingereiht 
werden. Es bei; aber dort nur die Bezeichnung als "Schule des CoIreggi0," 
nicht als Arbeit des Meisters selbst, davon tragen können, Hatte mein Ent- 
zücken über die Schönheit des bis dahin vergrabenen kleinen Schutzes mich viel- 
leicht doch zu (weit geführt?
	        
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