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Rheinreise,
184i.
Erster
Abschnitt.
Kapitälhöhe der Seitengänge emporgebaut; von dem südlichen Therme
steht nur wenig mehr als das untere Drittheil, während der nördliche Thnrm-
sich sogar kaum erst über seine Fundamente erhebt. Auch so zwar ragen
die l-Iaupttheile dessen, was vorhanden ist. namentlich der Chor und jenes
Thurmstück wie Felsgebirge aus dem Häusermeere der Stadt empor, so
dass der Reisende aus einiger Entfernung nur sie wahrnimmt, und die
übrigen Thürme der Stadt gegen diese ungeheuren Bruchstücke zu ver-
schwinden scheinen. Und auch an dem Vorhandenen bereits kann man
die ganze wunderbare Schönheit und Majestät des architektonischen Styles
abmessen und den Gedanken der Gründer und Baumeister des Domes bis
in ihre innersten Geheimnisse nachfolgen.
Die geringe Theilnahme, vwclche das Domgcbäutlc in den Zeiten des
verdorbenen Geschmackes fand, in jenen Zeiten. da man, in kümmerlichcr
Afterweisheit befangen, unter dem Worte ,.gothisch" soviel verstand als
"barbarisch", hatte es dahin gebracht. dass dem Dome selbst die nöthige
Sorge für die Erhaltung der zur Ausführung gekommenen Theile mehr oder
weniger vorenthalten blieb. Der Chor drohte zur Ruine zusammenzustür-
zen, und man freute sich bereits auf die malerische Wirkung, welche er
in diesem Zustande hervorbringen müsse. Da hemmtc König Friedrich
Wilhelm III. mit segensreicher Hand den weiteren Verfall; man schritt zur
Herstellung der beschädigten Theile, zur Ergänzung derer, welche be-
reits verloren gegangen, zur Erneuerung derer, welche verwittert waren und
der Sicherheit des Ganzen Gefahr drohten. Nach einer Reihe von Jahren
voll rastlgser Anstrengung, nach einem fortgesetzten höchst bedeutenden
Kostenaufwande, steht nunmehr der Chor des Domes wiederum in seiner
alten Pracht und Schönheit da.
Die Fortschritte dieses Herstellungsbaues hatten den Muth und die
Fähigkeit zur Arbeit zusehends im Wachsen gezeigt; man erkannte es,
dass unsre Zeit wohl im Stande sei, dasselbe zu leisten, was die alten
Meister des Baues geleistet hatten. Doch wagte man- es kaum, und nur
als einen Wunsch, den man sofort in das Reich idealer Träume verwies,
den Gedanken an eine eigentliche Fortsetzung des Baues, an eine Vollen-
dung dessen, was die alten Meister unvollendet hinterlassen hatten, auszu-
sprechen. War doch die Vollendung des Querschiiles und der Langschitfe
auf zwei Millionen, die Vollendung der Thürme auf drei Millionen Thaler
berechnet werden! Friedrich Wilhelm lV. aber hat königlichen Sinnes
das ernste Wort "der Vollendung ausgesprochen, und tausendstimmigen
Widerhall hat dasselbe in allen Gauen des deutschen Vatcrlandes gefunden.
Aller Orten ist der Eifer erwacht, zu diesem Unternehmen, das der Ehre
des gemeinsamen deutschen Namens gilt, beizusteuern; mannigfache Ver-
eine haben sich gebildet, um diesen Eifer zu.fördern_ ihm die Zweck-
mässigste Richtung zu geben und die Kräfte nach bestimmtem Plane zu-
sammenzuhalten; wir dürfen es mit Zuversicht hoffen, dass das-königliche
Wort nicht vergeblich gesprochen sei.
Unter solchen Umständen ist es wohl an der Zeit, die Pligenthümlich-
keiten des Gebäudes, dessen Vollendung so viele Kräfte sich widmen, mit
näherßul Eingehen auf das Einzelne darzulegen und das, worin es charak-
teristisch so bedeutsam ist, mit einiger Ausführlichkeit zu entwickeln. Die
folgenden Blätter sind diesem Zwecke gewidmet, Wenn meine Auffassung
in Etwas von den gangbaren Ansichten abweicht, so kann ich doch im
Voraus bemerken. dass sie auf einer sorgfältigen Untersuchung des Gebäu-