Volltext: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte (Bd. 1)

Kunst. 
Bildende 
Mittelalter. 
Schnitzwerke. 
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jenigen Kunst, auf welcher unsere heutige Bildung zu iiissen pflegt, bei 
den Griechen wenigstens nicht. Je mehr sich die kritische Forschung die- 
sem Punkte der antiken Kunst zugewandt hat, um so weiter erscheint 
der Kreis deyjgnigen Verhältnisse, in welchem die griechischen Künstler 
die Bildwerke mit farbigem Schmucke versahen 1). Und wenn die pla- 
stisnhe Ruhe, das hohe stille Genügen der griechischen Kunst schon dieses 
farbigen Reichthums nicht entbehren konnte, so stellt sich die Betrachtungs- 
weise für andere Entwickelungsperioden der Kunst, namentlich für die des 
christlichen Mittelalters, noch wesentlich anders. Welch eine Vielgestal- 
tigkeit, welch ein rastloses Emporstreben in der Architektur des Mittel- 
alters; welch ein durchgreifender Zug der Sehnsucht (sei es eine Sehnsucht 
des Gedankens oder des Gefühles) in ihren bildnerischen und poetischen 
Werken! Hier liegt die Ruhe nicht in dem Kunstwerke selbst, sie liegt 
darüber hinaus, in einem fernen Jenseits, und das Kunstwerk hat die Be- 
stimmung, das Gcmüth des Beschauers dahin hinüberzuführen. Darum 
genügt die blosse Form noch weniger als in der griechischen Kunst, darum 
muss ein anderes Element liinzutreten, welches sie reicher macht und sie 
zu dem Ganzen, dem sie angehört, in Uebereinstimmung bringt. Darum 
müssen namentlich die Gesichter der Bildwerke jenen farbigen Hauch cr- 
lialten, der von dem Inneren heraus die Seele auf die Oberfläche des Kör- 
pers treten lässt, und den ganzen Ausdruck des Auges und des Blickes, 
ohne den kein wahrhaft mittelalterliches Gebilde denkbar ist. Freilich 
finden wir viele Werke mittelalterlicher Sculplllf, die ungefärbt zu sein 
scheinen; aber wo Regen und Wetter nicht hingedrungen sind, wo Tünche 
oder sonstiger Anstrich sich ohne Beschädigung hinwegthun lässt, da zei. 
gen sich Spuren der Farbe genug, die das allgemein durchgehende System 
der Bemalung fast überall erkennen lassen 2). Bei alledem aber ist es, so 
viel reicher auch die Polychromie des Mittelalters sein mag als die grie- 
chische, keineswegs auf rohe Illusion, auf eine nüchterne Naturnachahmung 
abgesehen. Die Gewänder erscheinen in der Regel (ähnlich denen der 
griechischen Akrolithen) vergoldet, und nur ihr Unterfutter, wo dies sicht- 
bar wird, auf diese oder jene Weise gefärbt. Dies erhebt somit schon an 
sich die dargestellten Figuren wesentlich über den Kreis des Gewöhnlichen. 
Mehr Naturnachahmung sieht man an den nackten Körpertheilen; hier wer- 
den alle Haupttöne der Farbe, alle charakteristischen Uebergänge der natür- 
lichen Erscheinung wiedergegeben; und doch ist auch hier eine Weise der 
Behandlung vorherrschend, die  ich habe kein Wort, um das Wie zu 
bezeichnen  allen Gedanken an ein erstarrtes Scheinleben verschwinden 
macht, die das Kunstwerk eben nur als ein Kunstwerk, als ein von dem 
gewöhnlichen Leben Unterschiedenes erscheinen lässt. Bei der Anordnung 
zusammengesetzter Werke, wie die obengenannten Altarschreine, ist natür- 
1) Den Resunaten, welche meine Schrift "über die Polychromie der grie- 
chischen Architektur und Sculptur und ihre Grenzen" nach sicheren Zeugnissen 
aufgestellt hat, sind im Laufe der letzten fünf Jahre so mannigfach neue Ent- 
deckungen gefolgt, dass man mir nur zu grosse Mässigkeit in der Annahme der 
farbigen Dekoration für die genannten Kunstfächer vorwerfen kann.  2) Es wäre 
Wünschenswerth, auch über die mittelalterliche Polychromie genauere Forschungen 
angestellt zu sehen. Von Seiten des Instituts der britischen Architekten ist vor 
einiger Zeit eine Preisfrage über diesen Gegenstand aufgestellt werden, dnnh 
Weiss ich nicht, ob es zu einer genügenden Lösung gekommen ist.
	        
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