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Beschreibung der
Kunstschätze
Berlin
VOD
und
Potsdam.
Wie sie gegenwärtig einnehmen, bestimmt. Treten wir in eine Kapelle, in
einen Dom, dessen hehre Gewölbe unser Gemüth mit ehrfurchtsvollem
Schauer erfüllen, da wissen wir, was die alten Bilder über den Altären
sagen wollen; treten wir in einen fürstlichen Prunksaal, dessen bunte Wände
noch von den Klängen des Festreigens zu widerhallen scheinen. da ist uns
der freudige Glanz, mit welchem die Bilder von den Wänden auf uns herab-
blicken, nicht fremd. Und mehr noch als dies: jedes einzelne Werk
'der Kunst hat wiederum seine Individualität für sich, jedes will für sich
beschaut und aufgefasst sein, während das Auge, über die bunte Mannig-
faltigkeit des Verschiedenartigen hinschweifend, so leicht abgestumpft wird
und die Fähigkeit und die Lust. verliert, sich dem Einzelnen, in seiner stets
"eigenthümlichen Forderung zu bequemen. Dies beides aber ist eine un-
umgängliche Bedingung, der wir uns bei der Anschauung von Kunstwerken
einer vergangenen Zeit und von Sammlungen solcher, soll sie uns anders
einen wirklichen Genuss gewähren, unterwerfen müssen: wir müssen die
Interessen und die Bestrebungen der Gegenwart vergessen, um uns denen
der Vergangenheit willig hingeben zu können, und wir müssen das Einzelne
mit derjenigen Musse betrachten, die überhaupt zur Erkenntniss einer jeden
Individualität nöthig ist. Dann gewinnen wir durch den engen "Raum, den
das Kunstwerk einnimmt, einen Blick in ein weites Gebiet des Lebens;
dann, Schritt vor Schritt fortschreitend, werden wir auch den Fortschritten
des Lebens mit stets deutlicherem Bewusstsein folgen können.
Eine solche Absicht zu unterstützen, ist, wie bereits oben bemerkt,
der Zweck dieses Buches. Der Leser findet hier den reichen Vorrath der
Gemälde-Gallerie nach seinen geschichtlichen Beziehungen in übersichtliche
Gruppen gesondert, das Allgemeine der wechselnden kunsthistorischen Ver-
hältnisse angedeutet und die einzelnen Werke, mit mehr oder minder aus-
führlicher Charakteristik, namhaft gemacht. Natürlich konnte bei einer
Anzahl von 1232 Gemälden dies ist der gegenwärtige Bestand der Gallerie
nicht eben erschöpfend auf alles Einzelne eingegangen, konnte Manches
nicht anders als nur in der grössten Kürze berührt werden: es lag dem
Verf. vorzugsweise eben daran, die Gesichtspunkte für die eigne Betrachtung,
für das eigne Urtheil des Beschauers hinzustellen. So macht der Verfasser
auch keinen Anspruch darauf, dass seine Ansicht über ein jedes Einzelne
als die allein gültige angenommen werden solle; das Wesentliche der
Kunst ist eben nur mit dem subjectiven Gefühl aufzufassen, für dessen Rich-
tigkeit ausserhalb desselben kein weiterer Maassstab vorhanden ist. An
einigen Stellen ist der Verf. von den Bestimmungen des von dem Direktor
der Gemälde-Gallerie, Hrn. Dr. Waagen, verfassten Verzeichnisses abge-
wichen; zu seiner Rechtfertigung muss der Verfasser sich theils auf jenes
subjective Gefühl, theils aber auch auf die Gelegenheit berufen, die ihn
mit einigen besondern Punkten der Kunstgeschichte näher vertraut gemacht.
Jedenfalls dürften diese Abweichungen dazu dienen, den in der Kllnsfgg-
schichte minder Erfahrenen zu vorsichtiger Betrachtung gewisser Punkte,
die theils noch minder erforscht, theils schwieriger zu erforschen sind, an-
zuleiten. Dass im Uebrigen der Verf. dem genannten Verzeichniss, welches
bei den Kunstfreunden längst als eine vorzügliche Autorität anerkannt ist,
für die vorliegende Beschreibung vielfache und höchst wesentliche Förde-
rung verdankt, braucht, wie es scheint, wohl kaum hinzugefügt zu werden.
In Bezug auf manche, in der folgenden Beschreibung vorhandene Be-
merkungen über allgemeine oder besondre Gegenstände erlaubt sich der