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Schlosskircha
Zll
Quedlinburg etc.
welche rings die Fluren des Bodethales beherrscht und den malerischen
Gruppen der Landschaft einen mannigfach bedeutsamen Mittelpunkt dar-
bietet_ Neun Jahrhunderte sind vorübergegangen, seit ihre Stätte zuerst
von König Heinrich I. und dessen Gemahlin Mathilde, aus dem königlichen
Stamme VVittekinds, mit frommem Sinne dem Herrn gewidmet ward, seit
ihrem geheiligten Boden die irdischen Ueberreste des grossen Königs, und
nachmals die seiner Gemahlin, zur sicheren Ruhe anvertraut wurden. Mehr
als achthundert Jahre sind vertlossen, seit der gegenwärtig vorhandene Bau
der Kirche mit feierlichstem Glanz, im Beisein des Kaisers, der höchsten
Fürsten und Prälaten des Reiches und unzählbarer Volksmenge, seine Weihe
empfing. Mannigfache Schicksale freilich sind seitdem über die Kirche
hingegangen, mannigfache Restaurationen sind, zu verschiedenen Zeiten, an
ihr nöthig geworden; in ihren vorzüglichsten Theilen aber trägt sie noch
immer das Gepräge jener frühesten Zeit der deutschen Kultur, giebt ihre
Gestalt und Bildung noch immer ein klar vernehmbares Zeugniss von dem
Sinn und der Gefühlsweise derer, über deren Gräbern das reiche Leben der
Gegenwart erwachsen sollte. Grosse geschichtliche Erinnerungen knüpfen
sich an sie, und nicht bloss das Interesse Quedlinburgs, dessen vornehmste
Zierde sie ohne Bedenken genannt werden darf, scheint eine ausführliche
Darstellung ihrer Beschaffenheit und Geschichte zu rechtfertigen, da sie
ebenso für das Studium der mittelalterlichen Baukunst von Wichtigkeit, wie
in allgemeiner Beziehung für den Deutschen ein Ort heiliger Erinnerungen ist.
Der Baustyl, welchen die Schlosskirche von Quedlinburg in den älteren
Theilen ihrer Anlage zeigt, ist derjenige, in welchem überhaupt die ältesten
christlichen Kirchen Deutschlands, wenigstens der überwiegenden Mehrzahl
nach, aufgeführt worden sind. An sie reiht sich ein grösserer Cyklus an-
derweitiger Monumente an, aber sie muss als eins der Vorzüglichsten Bei-
spiele desselben betrachtet werden. Hierüber möge für diejenigen, welche
nicht näher mit der Architektur-Geschichte des Mittelalters bekannt sind,
Folgendes zur allgemeinen Verständigung dienen.
Die Vorbilder der gebräuchlichsten Kirchenanlagen im Mittelalter finden
sich in den altchristlichen Basiliken vor, die eine Form des elassischen
Alterthums für ihre Zwecke adoptirt hatten, eine Form, welche trotz der
Mangelhaftigkeit des Einzelnen (denn sie bildete sich in den Zeiten des
Verfalles der Kunst aus) doch etwas eigenthümlich Poetisches und Feier-
liches hat. Das oblonge Mittelschiü ist der Hauptraum des Gebäudes: über
den Reihen der Säulen und den Halbkreisbögen, welche insgemein die Säulen
verbinden, erheben sich die Seitenrnauern des Schiffes; sie tragen eine
flache Bretterdecke und lassen durch Fenster von genügender Grösse ein
bedeutendes Licht einfallen. Die Scitenschiiife sind insgemein niedriger;
sie erscheinen als beigeordnet und dienen dazu, durch ihren Contrast das
Grossartige des Mittelraumes klar ins Auge fallen zu lassen. Der Hoch-
altar steht vor einer grandiosen gewölbten Nische, welche das Gebäude in
würdiger Ruhe schliesst. Noch bedeutender wird die Gesammtwirkung,
wenn vor dem Altarraume ein Querschiff angewandt und die Verbindung
des Mittelschilfes mit diesem durch einen kühnen, weitgesprcngten Bogen
(nach alter Weise „Triumphbogen" genannt) vermittelt ist. Noch sind in
Rom und in Ravenna zahlreiche Gebäude vorhanden, welche diesen Styl der
ältest christlichen Kirche in seiner vollkommenen Reinheit zeigen. Im Ver-
lauf der Jahrhunderte, etwa vom achten Jahrhundert ab, treten jedoch im
italienischen Basilikenbau mannigfache Veränderungen ein: die Fenster