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Berichte
und Kritiken
Andrea Schüler ist, hier nicht miterwähnt werden, da er einer noch andern,
durchaus verschiedenen Richtung folgt.
S0 hat der Verf. zur Bezeichnung der tlorentinischen Kllllsiübung im
funfzehnten Jahrhundert fast nur Meister eines untergeordneten Ranges
genannt. Der beiden aber, welche, wie Jedermann weiss, die ersten Stel-
len in der ersten und in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts einnehmen,
welche von dem allerentsehiedenstcn Einfluss auf die gesammte Kunst der
Zeit waren, des Masaccio und des Domenico Ghirlandajo, gedenkt
er mit keiner Sylbe!
Der Verf. geht nunmehr zu den neueren Meistern über, zunächst zum
Leonardo. Sehr geistreich, aber wiederum nur halbwahr, sagt er von
Leonardos Gestalten: „Den letzten belebenden Athemzng gestalten-
schöpferischer Freiheit wagt er nicht ihnen einzuhauchen, und hegt noch
vor der unendlichen Kühnheit Scheu, seine menschlichen Gebilde sagen zu
lassen: seht, wir sind wirklich Gott, in uns lebt und webt er in reiner
Gegenwart." „Seit jeher hat mich nichts im neuen Testamente so gerührt,
als das Wort des Johannes: „„wer die Braut hat, der ist der Bräutigam,
der Freund aber des Bräutigams siehet und höret ihm zu, und freuet sich
hoch über des Bräutigams Stimme. Er muss wachsen, ich aber abnehmen!"
„Dies ergreifende Wort wiederholten mir Leonardos sämmtliche Gemälde,
die ich gesehen hatte. Ein liebliches seliges Lächeln umzieht "den Mund,
und scheint das ganze Gesicht verklären zu wollen: ist doch das Himmel-
reich nahe! Und doch liegt noch in diesem Lächeln ein wunderbarer
Reiz der Wehmuth und der Sehnsucht; eine stumme Befriedungslosigkeit
weilt im Auge und schläft unbewusst im Hintergrunde der Seele: der
Bräutigam steht nicht vor uns, denn nur, wer die Braut hat, ist wirklich
der Bräutigam."
Aber hat (so muss ich fragen), hat Leonardo nicht sein Abendmahl
gemalt? und ist er hier nicht der "Bräutigam" selber? und hat Raphael, oder
sonst wer, jemals Grösseres, jemals Göttlicheres gescheiten?
Dass sodann der charakteristische Ausdruck, den Leonardo grossen
Theils seinen (weiblichen) Köpfen aufprägte, in der Nachahmung seiner
Schüler und Anhänger mehr und mehr zur widerwärtigen Maske erstarrc,
ist dem Verf. ebenfalls nur mit grosser Einschränkung zuzugeben. Berner-
dino Luini namentlich erscheint überall als der reinste und naivste Künstler
und von einer Liebenswürdigkeit, wie sie nur bei Wenigen angetroffen wird.
Ueber Fra Bartolommeo spricht der Verf. einige wenige, aber sehr
passende Worte. Dann verlässt er die Florentiner und geht zum Fran-
cesco Frauciannd Perugino über. Hier fehlt ihm wieder der richtige
Standpunkt, indem er Francia's Treftlichkeit durchaus verkennt; er sagt
z. B., dass seine Gruppen durch kein dramatisches Leben vereint 111d
geschieden seien. Aber gerade Francia erscheint in seinen Hauptwerken,
den Fresken von S. Cecilia zu Bologna, als derjenige unter allen Meistern
jener vorherrschend gemüthvollen Richtung, der seinen Compositionen eine
vorzügliche dramatische Durchbildung zu geben wusste.
So kommt der Verf. zum Raphael. "Er war (so sagt der V.) zu voll
und ganz, um nicht in einseitigerer Vollendung Andere in gleicher Grösse
neben sich unverdunkelt erstehen zu lassen." Ich weiss nicht, wie jemand
der einseitiger ist wie ein andrer, doch gleich gross genannt werden
könne. Auch ist wahrlich nicht Tizians Grablegung im Palast Manfrini
zu Venedig, viel eher die von Raphael, einseitig vollendet.