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Italienische Studien
er zugleich in diesem Jahrhunderte zuerst den Weg, welcher zu einem
freieren und mehr naturgemässen Colorit hinführte. Durch ihn gewann die
Carnation eine Lebhaftigkeit, eine saftige Durchsichtigkeit, welche fortan,
nach Ausweis so vieler anderer Quattrocentisten, die auf ihn folgten,
vorherrschend blieb. Mit Sorgfalt und möglichster Naturtreue gieng er auf
die Beobachtung der Lokalfarben aus; und so gab er zuerst eine klare
Darlegung, wie die Natur uns lehrt, die Umrisse der Gegenstände nicht mit
scharfen und schneidenden Linien zu bezeichnen, sondern dieselben durch
wohl verstandene Widerscheine und Uebergänge in die benachbarten Tin-
ten, in Gemässheit der Luft, die sie einhüllt und färbt, verschwinden zu
machen.
Etwa nach Beendigung des gerühmten Gemäldes von S. Nicole begab
sich Gentile nach Siena, wo er im Jahr 1425 ein schönes Frcsco-Gemälde
der heiligen Jungfrau ausführte, die in ihrem Slchoosse das Kind, im Begriff,
dasselbe mit einem zarten Schleier zu bedeckemhielt, auf ihren Seiten die
Heiligen Johannes Baptista, Petrus, Paulus und Christophorus. Er fertigte
dies Werk im Auftrage derer, die an der Spitze des Notariats und der
Curie standen, und die mit demselben die Faeade ihres Palastes (die Super
porte desselben) zu schmücken beabsichtigten. Dieses Gemälde wurde so
werth geschätzt, dass man den Architekten Baldassare Guerino von
Borgo S. Sepolero ein Vordach über dasselbe anbringen liess, damit es so
fortwährend vor den Einflüssen der Witterung geschützt bliebe. Doch war
diese Vorsorge nichthinreichend genug, um bis aufunsere Zeit ein Gemälde
zu erhalten, von dem u. a. Bartholomäus Facius 1) mit den grössten Lobes-
erhebungen spricht. In diese Epoche sind ferner die Arbeiten zu setzen,
die ihm für die Kirche S. Giovanni aufgetragen wurden und von denen
Vasari spricht. Und indem wir weiter die Spuren verfolgen, die uns den
Gang seiner Künstler-Reise mit einiger Sicherheit erkennen lassen, so
scheint es, dass er, nachdem er noch andere Arbeiten in Toscana ausgeführt
hatte, unter denen namentlich eine grosse Tafel in der Kunst-Aka-
demie zu Pisa rühmlich erwähnt wird, dies schöne Land verlassen
und sich nach Perugia begeben habe.
In dieser Stadt, welche in kurzer Frist die Meisterwerke ihres Pietro
Vanucci erblicken sollte, fertigte Gentile ein Gemälde für die Kirche S.
Domenico, welches lange Zeit hindurch (in Rücksicht auf die Aehnlich-
keit des Styls) für ein Werk des B. Angelico da Fiesole gehalten wurde.
Aber die richtigen und wohl begründeten Nachrichten, welche uns Mariotti
in seinen gelehrten malerischen Briefen darüber gegeben hat, haben es dem
Pinsel des Fabrianesen aufs Neue zuerkannt 2). Sodann können wir
1] De viris illustribus, p. 44. 2) Mariotti: Lettere pittoriche Peruginc
al Sig. Baldassare Orsini, Perugia 1788. Vasari und Borghini bezeichnen die
obengenannte Tafel in S. Domenico zu Perugia als ein Werk des Gentile, Mariutti
sagt, dass dieselbe früher in der Sakristei des Klosters, naehmals im Kapitelsaale
aufgestellt war. Ich habe diesen Ort am 20. Mai 1828 besucht und nur einige
Tafeln des Giannieola daselbst vorgefunden. [In der Kirche S. Domenico, in
der dritten Kapelle des linken Seitenschitfes vom Chore aus, sah der Uebersetzer
im Sommer 1835 eine Anbetung der Könige vom Jahr 1460, welche der Behand-
lungsweise des Geutile ziemlich nahe steht, und vielleicht das in Rede stehende
Gemälde sein dürfte. Sie wird gegenwärtig (vergl. R. Gambiazi: Guida di Peru-
gia, 1826, p. 53) dem Benedetto Bonfigli zugemessen und stimmt in der
That auch mit den übrigen Werken, die man diesem Künstler zuschreibt, überein.