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Polychromie.
Antike
und Plinius') ausführliche Nachricht geben. Auf diese Weise ist die obige
Stelle auch von Andern schon früher erklärt worden. Dass Praxiteles dabei
gerade auf die von jenem Nicias überzogenen Statuen ein grösseres Gewicht
gelegt, kann auf verschiedene Weise erklärt werden; vielleicht war es nur
ein Bon-mot, dessen Gründe ausserhalb der Beziehungen der Kunst liegen
dürften. Bei der Masse von nichtssagenden Kunst-Anekdoten, welche Pli-
nius statt eines wirklichen Kunst-Urtheils zusammengetragen, darf eine
Solche Ansicht jener Worte nicht weiter befremden.
Die eben angeführte Stelle Vitruv's giebt uns noch einen sehr bedeut-
samen Wink über das bei den plastischen Werken angewandte Verfahren.
Nachdem er nämlich die Art geschildert, wie man die Wände enkaustiseh
mit Wachs überziehen müsse, schliesst er mit den Worten: "Gleichwie man
bei den nackten Marmorstatuen zu verfahren pflegt Dass man bei
den bekleideten Statuen ein andres Verfahren der Enkaustik angewandt
(wie Visconti hieraus geschlossen 3) ist bei der Einfachheit des von Vitruv
beschriebenen Verfahrens nicht wohl denkbar. Wir werden also voraus-
setzen müssen, dass die Enkaustik überhaupt bei Marmorstatuen nur ange-
wandt wurde, um dem Nackten, als solchem, eine besondere Eigenthüm-
lichkeit eine grössere Weichheit, wahrscheinlich auch einen wärmeren,
ins Gelbliche spielenden Ton, zu geben. Sehr naheliegend und folge-
reeht scheint zugleich der Schluss, dass ebendies auch bei den nackten
Theilen bekleideter Statuen Statt fand, um sie dadurch schon stofflich von
der Gewandung zu unterscheiden, die überdies häufig, wie sich insbesondere
aus den erhaltenen Monumenten ergiebt, durch Farbe und Vergoldung von
ihnen gesondert ward. Jener weichere und wärmere WVachsüberzug des
Marmors führt uns somit wiederum auf den, in der Blüthezeit der griechi-
schen Kunst so häufigen Gebrauch des Elfenbeins zurück, so dass beide
Materiale sich in ihrer Erscheinung nunmehr verwandter zeigen, als es ohne
ein solches Mittel der Fall gewesen wäre.
Von den Vertheidigern einer bis zur vollkommenen Naturnachahmung
gediehenen Polychromie der Plastik wird noch eine besondere Begeben-
heit in der griechischen Geschichte als Stütze ihrer Ansicht beigebracht.
Als die Gallier nämlich Delphi zu plündern kamen, sollen sie das Heer
der Statuen auf den Terrassen des Tempels gesehen und sich nicht näher
gewagt haben. Sie hielten (so schliesst man) die marmornen Menschen
für lebendige und wagten den Angriff nicht. Wie war ein solcher Irrthum
möglich, ohne eine grössere Illusion als die ist, die wir der Plastik zuthei-
len, ohne Farbenillusion? Indem wir voraussetzen, dass das Factum
richtig sei 4), fällt uns noch ein andres griechisches Geschichtchen ein, das
uns auch wohl auf eine andre Erklärung führen könnte. Herodot 5) und
Pausanias 6) erzählen nämlich eine besondre Kriegslist, deren sich die
Phocier einst im Kriege gegen die Thessalier bedienten: Fünfhirnrlert ihrer
1) l. XXXIIL c. VII. z) Ut signa marmorea nuda curantur. 3) Musäe
Pie-Cläm. T. III, p. 36, n 2. ed. Milan. 4] Der Verf, hat die Qualle, aus
welcher die obige, von Hrn. Semper mitgetheilte Erzählung genossen sein dürfte,
nicht auffinden können. Sollte sie vielleicht auf einem Missverständnisse beruhen?
Unter den Autoren, welche des Einfalls der Gallier erwähnen, berichtet z. B_
Gicero [de divinat. l I, c. 37] von einem Orakel der Pythia, des Inhalts: dass
weisse Jungfrauen das delphische Heiligthum schützen würden, Die Jung-
frauen erklärt er jedoch hernach nicht als Statuen, sondern als Schnee. 5) l.
VIII, 27. S) 1.x c. I, 5.