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Antike Polychrornie.
Der grosse Tempel von Paestum 1) ist ein Gebäude von überaus
kurzen und massenhaften Verhältnissen. Doch rechtfertigen dieselben eben-
falls noch nicht jenes hohe Alter, welches man dem Gebäude zuschreibt.
Die entschieden kräftige, nicht übertrieben wulstige Linie in der starken
Ausladung des Echinus, das eigenthümliche Profil seiner Riemchen, die
leichten, flach gehaltenen Dielenköpfe und die zierlich geschwungene Welle
unter der Platte des Giebelgesimses deuten hier auf eine schon vorgeschrit-
tene Stufe der Kunst und lassen dies Monument vielleicht als die vollen-
detste Ausbildung jenes eigenthümlich schweren Dorismus der westlichen
Länder erscheinen. Der Hohlleisten als Bekrönung des Gebälkes im Pronacs
ist auch hier nicht zu übersehen.
Anders ist es mit den beiden andren noch stehenden Monumenten von
Paestum, dem kleinen Tempel und der Basilika. Hier athrnet Alles
eine merkwürdige Verweichlichung, die im anffallendsten Contraste zu den
beibehaltenen altdorischen Verhältnissen steht. Jene starke Ausbauchung
der Säulenstämme, jene weich eingezogene, mit Blättern geschmückte Hohl-
kehle unter dem Kapital sind Motive, welche den ernsten, würdevollen
Charakter der dorischen Ordnung geradehin aufheben. Dazu kommt bei
dem kleineren Tempel 2) der Eierstab über dem Architrav; die römisch-
nüchterne Anordnung der Triglyphen; die gesuchte Form der Cassettirung
in den Soffitten der hängenden Platten statt der Dielenköpfe, welche sonst
die Last tragen helfen; die toskanischen Basen im Pronaos u. s. w. Noch
auffallender aber ist das Kapital der Pfeiler in der Basilika, welches in
seiner Hauptform entschieden an die Pfeilerkapitäle der ionisehen Monu-
mente Klein-Asiens erinnert und durch farbigen Blätterschmuck ihnen
gewiss noch näher verwandt War. Alles dies kann_nnr als eine späte Aus-
artung früherer, strengerer Formen betrachtet werden. Höchst merkwür-
dig sind endlich die Ruinen eines Monumentes von freier korinthischer
Ordnung mit vermuthlich dorischem Gebälkea); die Basis der Säulen
gleicht hier, und noch mehr wie an den ionisehen Halbsäulen von Bassae,
jener altpelasgischen Säulenbasis von Mycenae. Den Zusammenhang dieser
Formen wissen wir nicht nachzuweisen. Wer möchte aber bei diesem
Wechsel von verweichlicht dorischen, weichen ionisehen und pelasgischen
Formen zu Paestum, der Tochterstadt von Sybaris, nicht zugleich an die
bekannte Verweichlichung in den Sitten der Mutterstadt gedenken ?
Der noch stehende Tlempelruin (Tavola dei Paladini) zu Metaponta)
am tarentinischen Meerbusen zeigt in seiner Säulenstellung etwas Freißs
und Edles; der Echinus des Kapitäles aber schliesst sich, in seiner Star];
ausladenden, weichgebogenen Linie, in der bedeutenden kehlenartigen
Unterschneidung, welche der Anlauf des Schaftes unter den Riemchen
bildet, vollkommen den allgemeinen Bildungsgesetzen der sicilischcn und
grossgriechischen Monumente an. Ganz ähnlich ist die Kapitälform des
merkwürdigen Tempels von Cadacchio, auf dem gegenüberliegenden
des ebendort am Markte belegenen Apollo-Tempels erinnert auffallend an phö-
nicische Dekorationsweise, davon uns- u. a. die Beschreibung des Salomonischen
Texnpelbaues noch ein deutliches Bild giebt. c. OXXVII.)
U Ueber Paesturn s. Wilkins, a. a. O. c. V1. Besonders: De 1a Gardette,
les ruines de Paestunz. 2) Vergl. die neueren Untersuchungen von Mauch,
in der Fortsetzung zu Norxnamfs vergl. Darst. der architekt. Ordnungen, '13 l.
3) Manch, a. a. O. T. 15. 4) Mätaponte, par le Duc de Luynes etc.
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