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läerimrhte
ritike
in der That weniger wissen, als unsre Gelehrten zu wissen glauben, und
dass wir erst dann zu gründlichen Resultaten gelangen können, wenn wir
einmal alle langgehegten Vorurtheile abzuwerfen wagen.
Dankenswerth sind die beiden ausführlichen Beilagen, von denen
die eine über die eigenthümlich eingerichteten Doppelkapellen (auf den
Burgen von Eger, von Landsberg bei Halle, von Freiburg an der Unstrut, von
Nürnberg und Conradsburg bei Ermsleben), die andre über die mittelalter-
lichen Bauvereine handelt. Letztere beschäftigt sich, nach einer allge-
meinen Einleitung, besonders mit der erst neuerlich bekannt gewordenen
'l'0rgauer Steinmetzen-Ordnung vom Jahre 1462. Diese führt mehr als die
andern beiden, schon bekannten Ordnungen in das innere Leben der Bau-
hütten ein und unterrichtet uns von dem Benehmen der Meister, Pallirer
und Gesellen, von den Arbeiten der Steinmetzen, von dem Hüttengericht,
von den Ceremonien und dem Ritual, die in der Hütte gebräuchlich waren,
und giebt uns endlich auch eine erfreuliche Auskunft über die Steinm etz-
zeichen, deren wir noch häufig an mittelalterlichen Kirchen vorlinden.
Die Ordnung ist vollständig "abgedruckt und vom Verfasser ausführlichst
erläutert.
Der modernen Baukunst ist im vorliegenden Werke ein grösserer
Abschnitt gewidmet, als in der letzten Architekturgeschichte des Verfassers.
Auch hier ist manches Belehrende enthalten. aber auch hier genügt das
Ganze auf keine Weise. Namentlich können wir es nicht unterschreiben,
wenn der Verfasser behauptet, dass in diesem Zeitraume, nach dem Auf-
hören der Bauhütten, die einzelnen Künstler ganz nach eigener Laune
gearbeitet hätten; wir bemerken im Gegcntheil, fast wie in der neueren
Malerei, gewisse Schulen (eine florentinische, römische, venetianische u. s. w.)
die in sich viel Gemeinsames aufweisen. Schon einzelne Bemerkungen in
Quatremere-de-Quincys Geschichte der neueren Architekten hätten den
Verfasser auf diese Ansieht leiten müssen, wenn er auch eine eigentliche
Charakteristik der bedeutendsten Künstler (deren Werke er gleichwohl
ausführlich erwähnt) übergehen wollte.
Um unserer Zeit endlich einen sicheren WVeg vorzuzeichnen, schliesst
(ler Verfasser damit, den italienischen Baustyl für Paläste und Wohnge-
bäude, den Rundbogenstyl (den byzantinischen) für Theater, Rathhäuser,
Schulgebäude und Börsen, den gothischen für Kirchen anzuempfehlen. Bei
diesem Quodlibet fällt dem Referenten das Wort eines grossen Baukünstlers
ein, welches dieser zu ihm sagte, als man die verschiedenen vorhandenen
Baustyle in Frage stellte, und 0b man sich für Einen derselben bestimmt
zu entscheiden habe: "Wir haben nur zu viel Heil." Gewiss, wir
haben zu viel Heil! das Eine Heil aber, das allein uns frornmt, kann nur
aus der lebendigen inneren Ueberzeugung hervorgehen; und dahin werden
wir nie kommen, wenn wir nicht auch in dieser Beziehung lernen , dass
die Geschichte nur unsre Schule ist, dass die Form für die Gegenwart nur
in der Gegenwart geboren werden kann.